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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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zog sich rund um den Stacheldrahtzaun, nur unterbrochen durch die Unterstände aus Sandsäcken. Die \ierte Gruppe war neu. Shan musterte sie, als der Hubschrauber landete. Es waren Tibeter. Hirten. Leute aus der Stadt. Kinder, alte Männer und Frauen. Manche schauten in Richtung des Lagers und sagten Mantras auf. Andere bereiteten ein torma -Opfer aus Butter vor, das geweiht und verbrannt werden sollte, um den mitfühlenden Buddha anzurufen.
    Ein beißender Korditgestank hing in der Luft. Als das Heulen des Helikoptermotors erstarb, hörte Shan Kinder weinen und verzweifelte Rufe aus der Menge laut werden. Die Leute riefen Namen und meinten damit einzelne Häftlinge innerhalb der Umzäunung. In der Nähe des Eingangs saßen mehrere alte Männer und beteten. Shan lauschte ihnen einen Moment lang. Sie baten nicht etwa um das Überleben der Gefangenen. Sie beteten für die Erleuchtung der Soldaten.
    Tan stand schweigend da und musterte die Szene. Sein Zorn war kaum zu übersehen. Vor den Zivilisten stand ein Dutzend Kriecher mit durchgeladenen Maschinenpistolen. Zu ihren Füßen lagen Patronenhülsen verstreut.
    »Wer hat euch den Befehl gegeben, das Feuer zu eröffnen?« brüllte Tan.
    Sie ignorierten ihn.
    »Es gab eine Bewegung in Richtung der Todeszone«, sagte eine aalglatte Stimme hinter ihnen. »Man hatte die Leute gewarnt.« Shan erkannte den Mann, noch bevor er sich umdrehte. Der Major. »Wie Sie wissen, Oberst, verfügt das Büro in solchen Fällen über entsprechende Verfahrensweisen.«
    Tan starrte den Major mit düsterem Blick an und ging dann wütend auf den Gefängnisdirektor zu, der bei den Wachen stand. Unterdessen trat Shan so nah er es wagte an den Zaun und suchte die Gesichter der Gefangenen ab. Von hinten packte ihn schmerzhaft eine Hand an jedem Arm. Seine Häftlingsinstinkte ließen ihn zusammenzucken, und er duckte sich, um sich auf den Schlag vorzubereiten. Als kein Schlag folgte, ließ er sich von den Soldaten wegführen. Die Kriecher erkannten ihn nicht als Gefangenen, begriff er. Seine Hand glitt an den Ärmel und zog ihn herunter, um die Tätowierung zu bedecken.
    Er blieb stehen, wo man ihn hinbrachte, und starrte durch den Zaun. Von Choje war nichts zu sehen.
    Die tibetischen Zivilisten wichen vor ihm zurück, als er durch die Menge ging. Sie drehten sich von ihm weg und ließen ihn nicht nahe genug an sich heran, daß er ein Gespräch anfangen konnte. »Die Häftlinge«, rief er den Rücken zu, die sich ihm zuwandten. »Sind die Häftlinge verletzt?«
    »Sie haben Zauber«, rief jemand trotzig. »Zauber gegen die Kugeln.«
    Plötzlich stand eine vertraute Gestalt vor ihm, die irgendwie fehl am Platz wirkte. Es war Sergeant Feng. Er trug das alte Wollhemd, das Shan ihm in Kham angezogen hatte, und sein schmutziges Gesicht wirkte müde. Als er Shans Blick erwiderte, lag keinerlei Überheblichkeit mehr darin. Einen Moment lang glaubte Shan, eine flehentliche Bitte daraus zu lesen.
    »Ich dachte, Sie wären in den Bergen.«
    »Da war ich auch«, erwiderte Feng lakonisch.
    Als Shan auf ihn zuging, trat Feng vor, als wolle er ihm den Weg versperren. Shan legte Feng eine Hand auf die Schulter und schob ihn beiseite. Hinter ihm saß ein Priester am Boden und betete gemeinsam mit einer alten Frau ein Mantra. Shan blieb stehen und riß die Augen auf. Es war Yeshe, erkannte er auf einmal. Der Tibeter trug ein rotes Hemd, das den Eindruck eines Mönchsgewands erweckte. Sein Kopf war völlig kahlgeschoren.
    Yeshe grinste unbeholfen, als er Shan bemerkte. Er tätschelte der Frau die Hand und stand auf.
    »Ich habe nach den Häftlingen gefragt«, sagte Shan.
    Yeshe schaute in Richtung des Zauns. »Man hat über ihre Köpfe geschossen. Bislang ist niemand verletzt.« In seinem Blick lag eine Selbstsicherheit, die Shan noch nie an ihm gesehen hatte.
    »Verdammter Narr!« rief der Sergeant plötzlich hinter ihnen aus und lief dann durch die Menge auf ein Kochfeuer zu, an dem eine Frau sich mit jemandem stritt. Es war Jigme.
    »Sie will mir nichts geben«, sagte Jigme, sobald er Shan sah. »Ich habe ihr gesagt, daß es für Je Rinpoche ist.« Er sah erst Shan und dann Yeshe an. »Sagt es ihr«, bat er. »Sagt ihr, daß ich kein Chinese bin.«
    »Sie sind in den Bergen gewesen«, sagte Shan. »Was ist geschehen?«
    »Ich muß Kräuter finden. Einen Heiler. Ich dachte, vielleicht hier. Jemand hat gesagt, hier wären Priester.«
    »Ein Heiler für Je?«
    »Er ist sehr krank. Sehr schwach. Wie ein Blatt an

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