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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Mannes im Schoß, wischte ihm mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab und hielt manchmal inne, um ihn mit Reis zu füttern, ein Korn nach dem anderen.
    »Wir haben versucht, einen Doktor zu bekommen«, sagte Shan. Er fühlte sich hilflos. »Eine Ärztin aus der Stadt.« Doch Dr. Sung hatte sich geweigert. Als er anrief, um sie dazu zu bewegen, ihre Meinung zu ändern, hatte sie sogleich eine ganze Reihe von Ausreden vorgebracht. Sie hätte jetzt Sprechstunde in der Klinik, sagte sie. Sie müßte gleich operieren, sagte sie. Ein Militärlager läge außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs, sagte sie.
    »Man hat es Ihnen mitgeteilt, nicht wahr?« hatte er sie gefragt. »Daß es sich um einen alten Lama handelt.«
    »Weshalb sollte das einen Unterschied bedeuten?«
    »Wegen der Vorfälle in der buddhistischen Schule.«
    Während der Stille, die darauf folgte, war Shan sich nicht sicher gewesen, ob sie ihm überhaupt noch zuhörte. »Ein alter Mann ist todkrank«, hatte er sie beschworen. »Falls er stirbt, bleibt uns keine Möglichkeit mehr, mit Sungpo zu sprechen. Falls er stirbt, kann das dazu führen, daß ein anderer zu Unrecht hingerichtet wird. Und ein Mörder wird ungestraft davonkommen.«
    »Ich habe eine Operation«, hatte Dr. Sung fast schon im Flüsterton gesagt.
    »Kommen Sie mir nicht mit Ausflüchten«, hatte Shan erwidert. »Sagen Sie doch einfach, daß Sie nicht wollen.« Sie blieb stumm. »Neulich in Ihrem Büro ist mir etwas klargeworden«, setzte er nach. »Sie sind nicht verbittert über den Rest der Welt, wie Sie jedermann glauben machen wollen. Sie sind nur verbittert über sich selbst.«
    Daraufhin hatte sie aufgelegt.
    »Rinpoche«, sagte Shan sanft. »Ich könnte tsampa besorgen. Sagen Sie mir, was Sie essen möchten.« Er fühlte nach dem Puls des alten Mannes. Das Herz schlug langsam und schwach, wie das gelegentliche Kräuseln einer Feder im Lufthauch.
    Je öffnete die Augen. »Mir fehlt es an nichts«, sagte er mit einer Stärke, die seine Erscheinung Lügen strafte. »Ich suche nach einem Tor. Einige Türen habe ich schon gefunden, aber sie sind verschlossen. Jetzt suche ich nach meinem Durchgang.«
    »Nur noch ein Tag, dann bringen wir Sie nach Hause.«
    Je sagte etwas, aber so leise, daß Shan ihn nicht hören konnte. Es war an Sungpo gerichtet, der Je verstand und die Hand des Alten zu dem Rosenkranz an seinem Gürtel führte. Je begann ein Mantra.
    Nachdem Shan hartnäckig darauf bestanden hatte, war Jigme der Zugang zum Arrestlokal gestattet worden. Er hatte sich sofort mit einer Schale Reis in die dunkelste Ecke der Zelle zurückgezogen. Als er sich umdrehte, war die Schale leer. Shan ging auf die Ecke zu. Einen Moment lang stellte Jigme sich ihm in den Weg, schaute von Sungpo zu Je und wieder zurück und gab schließlich nach.
    Er hatte zwei der Steine, die als Kopfstützen dienten, vor die Wand geschoben, einen dritten Stein quer darüber gelegt und so einen winzigen Geisterschrein errichtet. Zwischen den unteren Steinen lagen ein halbes Dutzend Reisbällchen, die Spitzzange aus dem Schubfach und ein Stück Draht. Als Unterlage dienten einige kleine leuchtendweiße Stücke Papier.
    Shan streckte die Hand nach dem Papier aus, doch Jigme schlug sie beiseite.
    »Der Wachposten hatte sie, als ich vorhin gekommen bin. Er hat gelacht und sie Sungpo gezeigt, aber Sungpo hat meditiert. Da hat der Wachposten sie in die Zelle geworfen. Ich habe sie schnell aufgesammelt, bevor jemand mehr davon sehen konnte. Ich muß sie verbrennen. Sie sind respektlos.«
    Das waren keine Blätter, begriff Shan, als er sie umdrehte. Es waren Fotos, insgesamt ein Dutzend Aufnahmen von drei verschiedenen Mönchen mit Beamten der Öffentlichen Sicherheit. Schaudernd erkannte Shan, daß er die Mönche bereits auf den Bildern in Jaos Akten gesehen hatte. Jedem dieser ersten drei Angehörigen der Fünf von Lhadrung waren vier der Fotos gewidmet. Das erste zeigte den jeweiligen Mann zwischen zwei Soldaten bei seiner Verhandlung. Auf dem nächsten kniete er. Auf dem dritten konnte man knapp einen halben Meter hinter seinem Kopf eine Pistole sehen. Die letzte Aufnahme zeigte ihn ausgestreckt und tot auf dem Boden, den Kopf inmitten einer großen Blutlache.
    Mit zitternden Händen schob Shan die Fotos zusammen und steckte sie ein.
    Sungpo sprach abermals mit Je. Der alte Mann stieß ein heiseres, pfeifendes Lachen aus. »Er sagt, ich soll Bescheid geben, daß wir bald anfangen müssen«, erklärte Je. Womit anfangen?

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