Der fremde Tibeter
Auf den Wänden waren als Überbleibsel der früheren Benutzung die Reste aufgemalter Ideogramme zu sehen, so daß die Hütte wie ein Puzzle aus nicht zusammengehörigen Teilen wirkte. Hinter dem Gebäude standen mehrere vierrädrige Fahrzeuge und ein halbes Dutzend Offiziere. Die Männer nahmen Haltung an, als Tan aus seinem Wagen stieg.
Der Oberst beriet sich kurz mit den Soldaten und winkte Shan zu sich heran, während er hinter dem Schuppen verschwand. Yeshe und Feng stiegen ebenfalls aus und wollten Shan folgen. Einer der Offiziere schaute alarmiert auf und befahl ihnen, zurück in den Wagen zu klettern.
Sechs Meter hinter der Hütte befand sich ein Höhleneingang, an dessen Rändern irische Meißelspuren zu sehen waren. Man hatte ihn vor kurzem erweitert. Einige der Offiziere steuerten in einer Reihe auf die Höhle zu. Tan brüllte einen Befehl, woraufhin sie innehielten, um zwei grimmig blickenden Soldaten Platz zu machen, die auf Anweisung des Obersts mit elektrischen Lampen vorangingen. Shan folgte Tan und den beiden Soldaten in die Höhle, während die anderen Männer zurückblieben und ihnen nervös flüsternd hinterherschauten.
Die ersten dreißig Meter bestanden aus einem engen, gewundenen Tunnel, in dem zahllose Hinterlassenschaften darauf hindeuteten, daß er einigen Raubtieren als Unterschlupf gedient hatte. Man hatte die Abfälle beiseite geschoben, um Platz für die Karren zu schaffen, deren Radspuren in der Mitte des Pfads zu sehen waren. Dann öffnete der Gang sich in eine sehr viel größere Kammer. Tan blieb so abrupt stehen, daß Shan beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre.
Jahrhunderte zuvor hatte man die Wände verputzt und mit den Gemälden riesiger Kreaturen versehen. Als Shan die Bilder anstarrte, verspürte er einen Stich im Herzen. Es lag nicht an dem Gefühl der Entweihung, weil Tan und seine Hunde hier waren. Shans gesamtes Leben hatte aus einer Vielzahl solcher Übertretungen bestanden. Es lag auch nicht an den furchterregenden Abbildungen der Dämonen, die in den zitternden Lichtkegeln der von den Soldaten gehaltenen Scheinwerfer vor ihren Augen zu tanzen schienen. Solche Ängste waren gar nichts im Vergleich zu den Schrecken, die Shan in der 404ten kennengelernt hatte.
Nein. Es lag an der Art und Weise, wie diese alten Gemälde Shan Ehrfurcht einflößten, wie sie ihn mit Scham erfüllten und ihn sich danach sehnen ließen, bei Choje zu sein. Sie waren so bedeutend, und er war so klein. Sie waren so schön, und er war so abstoßend. Sie waren so perfekt tibetisch, und er war so perfekt gar nichts.
Die Männer gingen näher heran, bis etwa fünfzehn Meter der Wand in Licht getaucht waren. Als die satten, vollen Farbtöne deutlicher hervortraten, begann Shan, die Bilder wiederzuerkennen. In der Mitte befanden sich vier sitzende Buddhas, nahezu in Lebensgröße. Zunächst der Gelbe Juwelgeborene Buddha, dessen linke Hand in einer gebenden Geste geöffnet war. Dann der Rote Buddha des Grenzenlosen Lichts, der auf einem außerordentlich detailliert gestalteten Pfauenthron saß. Daneben befand sich der Grüne Buddha, der in der Linken ein Schwert hielt und die Rechte mit der Handfläche nach außen erhoben hatte, dem mudra, dem Symbol zur Vertreibung der Angst. Und schließlich gab es noch eine blaue Gestalt, den Unerschütterlichen Buddha, wie Choje ihn nannte, auf dessen Thron Elefanten gemalt waren und dessen rechte Hand nach unten wies und das erdberührende mudra formte. Es war ein mudra, das Choje oftmals den neuen Gefangenen beibrachte und das die Erde zur Bezeugung ihres Glaubens anrief.
Zu den Seiten der Buddhas befanden sich Gestalten, die Shan weniger vertraut waren. Sie hatten die Körper von Kriegern, schwangen Bögen, Äxte und Schwerter und standen über menschlichen Gebeinen. Auf der linken Seite, und damit am dichtesten neben Shan, war eine kobaltblaue Figur mit dem Kopf eines wütenden Stiers abgebildet. Um den Hals trug sie einen Kranz aus Schlangen. Um die Figuren herum war eine Armee von sehr viel kleineren Skeletten gemalt worden.
Plötzlich verstand Shan. Das waren die Beschützer des Glaubens. Als er vortrat, bemerkte er, daß die Füße des Tigerdämons verfärbt waren. Nein, nicht verfärbt. Jemand hatte grob versucht, einen Teil des Wandgemäldes herauszumeißeln. Es war ihm nicht geglückt, und nun lag ein kleiner Haufen bunten Mörtels unterhalb der Gestalt auf dem Boden.
Das Licht an dieser Stelle wurde schwächer. Die Soldaten gingen entlang der
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