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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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näherte, tat sich in dem schützenden Kreis ein Lücke für ihn auf. Er war sich nicht sicher, ob er warten sollte, bis der Lama seine Meditation beendet hatte. Aber als Shan neben ihm Platz nahm, öffnete Choje die Augen.
    »Im Fall eines Streiks gibt es ein ganz bestimmtes Verfahren, Rinpoche«, sagte Shan leise. »Aus Peking. Es ist in einem Buch niedergeschrieben. Streikende erhalten die Gelegenheit, zu bereuen und ihre Bestrafung zu akzeptieren. Andernfalls wird man versuchen, alle auszuhungern. An den Führern werden Exempel statuiert. Nach einer Woche kann der Streik eines lao gai-Gefangenen zum Kapitalverbrechen erklärt werden. Falls man gerade in großzügiger Stimmung ist, wird man jede der Haftstrafen einfach nur um zehn Jahre verlängern.«
    »Peking wird tun, was es tun muß«, lautete die erwartete Antwort. »Und wir werden tun, was wir tun müssen.«
    Shan musterte die Männer schweigend. Sie wirkten nicht ängstlich, sondern stolz. Er deutete auf die Wachen unterhalb des Hangs. »Ihr wißt, worauf die Wachposten warten.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Vermutlich sind sie bereits unterwegs. So nah an der Grenze wird es nicht lange dauern.«
    Choje zuckte die Achseln. »Solche Leute warten immer auf irgend etwas.« Einige der Mönche, die dicht in ihrer Nähe standen, lachten leise.
    Shan seufzte. »Der Tote hatte das hier in der Hand.« Er reichte Choje das Medaillon. »Ich glaube, er hat es seinem Mörder abgerissen.«
    Als Chojes Augen sich auf die Scheibe richteten, blitzten sie wissend auf. Dann verhärtete sich sein Blick. Er fuhr mit dem Finger über die Inschrift, nickte und gab den Anhänger an die Mönche weiter. Laute des Erstaunens ertönten. Die Männer reichten die Scheibe im Kreis herum und ließen sie nicht mehr aus den Augen.
    Shan wußte, daß zwischen Mörder und Opfer kein wirklicher Kampf stattgefunden hatte. In diesem Punkt hatte Dr. Sung recht. Aber es hatte einen Moment gegeben, vielleicht nur einen winzigen Augenblick der Erkenntnis, in dem das Opfer den Täter erst gesehen und dann berührt hatte. Als es bewußtlos geschlagen wurde, streckte es die Hand aus und packte die Scheibe.
    »Es hat Gerüchte über ihn gegeben«, sagte Choje. »Oben, im Hochgebirge. Ich war mir nicht sicher. Manche haben behauptet, er hätte uns im Stich gelassen.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Früher waren sie oft unter uns.« Die Augen des Lama blieben auf die Scheibe gerichtet. »Als die dunklen Jahre kamen, haben sie sich tief in die Berge zurückgezogen. Aber die Leute sagten, sie würden eines Tages zurückkehren.«
    Choje schaute wieder zu Shan. »Tamdin. Das Medaillon stammt von Tamdin. Man nennt ihn den Pferdeköpfigen. Er ist einer der Geisterbeschützer.« Choje hielt inne, rezitierte einige Mantras und ließ dabei die Perlen seiner Gebetskette durch die Finger gleiten. Dann blickte er verwundert auf. »Dieser Mann ohne Kopf. Er wurde von einem unserer Schutzdämonen geholt.«
    In diesem Moment tauchte Yeshe am Rand des Kreises auf. Verlegen musterte er die Mönche, als sei er peinlich berührt oder gar verängstigt. Er schien nicht gewillt oder in der Lage zu sein, den Kreis zu betreten. »Man hat etwas gefunden«, rief er, seltsamerweise außer Atem. »Der Oberst wartet an der Kreuzung.«
    Eine der ersten Straßen, die von der 404ten gebaut worden waren, zog sich rund um das Tal und verband die alten Pfade miteinander, die zwischen den hohen Kämmen aus dem Gebirge herführten. Die Straße, auf der die beiden Fahrzeuge nun hinauf in die Drachenklauen fuhren, war einst einer dieser Pfade gewesen und noch immer so unwirtlich, daß sie zu einem Flußbett wurde, wenn im Frühling das Tauwetter hereinbrach. Zwanzig Minuten nachdem sie das Tal verlassen hatten, bog Tans Wagen auf einen unbefestigten Weg ein, der unlängst von einem Bulldozer angelegt worden war. Sie erreichten ein kleines einsames Plateau. Shan musterte den hochgelegenen windumtosten Kessel durch die Scheibe. Auf seinem Grund entsprang dicht neben einer einzelnen riesigen Zeder eine kleine Quelle. Nach Norden hin war das Plateau geschlossen. Im Süden öffnete es sich und gab den Blick auf achtzig Kilometer schroffe Berge frei. Für einen Tibeter wäre dies ein Ort der Macht, an dem vielleicht ein Dämon hauste.
    Als Feng den Wagen abbremste, kam ein langer Schuppen mit einem übergroßen Schornstein in Sicht. Man hatte ihn erst kürzlich errichtet und dazu Sperrholzplatten aus irgendeinem anderen Gebäude verwendet.

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