Der fremde Tibeter
Wand ans andere Ende der riesigen Kammer. Zwei weitere Dämonen tauchten auf. Der erste war grünhäutig, mit dickem Bauch und dem Schädel eines Affen. In der einen Hand hielt er einen Bogen, mit der anderen schwang er drohend einen Knochen. Die letzte Gestalt war eine rote Bestie mit vier Fangzähnen, die aus einem wütend aufgerissenen Maul hervorragten. Über ihrem goldenen Haar erhob sich der kleine grüne Kopf eines wilden Pferds, und ein Tigerfell lag über eine der Schultern drapiert. Die Bestie stand inmitten lodernder Flammen, und um sie herum waren Knochen verstreut. Shans Hand krampfte sich um die Scheibe in seiner Tasche, das Schmuckstück, das man dem Mörder abgerissen hatte. Er widerstand der Versuchung, die Scheibe hervorzuholen. Die Bilder des reißzahnbewehrten Pferds stimmten überein, dessen war er gewiß.
Die Lichter schwenkten von der Wand weg und richteten sich auf Oberst Tans Stiefel, so daß er auf einmal genauso unheimlich und überlebensgroß wirkte wie ein weiterer Dämon. »Die Sachlage hat sich verändert«, verkündete er plötzlich.
Shan musterte die entschlossenen Gesichter ihrer Begleiter. Sein Herz zog sich erneut zusammen. Er wußte, was Männer wie Tan an solchen Orten zu tun pflegten. Sie befanden sich hier tief im Berg. Draußen würde nichts zu hören sein. Kein Schrei. Kein Schuß. Man würde nichts hören, und man würde hinterher nichts finden. Jilin irrte sich. Nicht alle Morde wurden verübt, um Vergebung zu erlangen.
Tan reichte Shan ein gefaltetes Stück Papier. Es war seine Kopie von Shans Unfallbericht. »Wir werden das nicht benutzen«, sagte er.
Mit zitternder Hand nahm Shan das Blatt entgegen.
Tan folgte den Soldaten zu einem Seitengang. Bevor er eintrat, drehte er sich um und bedeutete Shan ungeduldig, er möge ihnen folgen. Shan schaute zurück. Es gab keinen Fluchtweg. Draußen warteten weitere zwanzig Soldaten. Voller Verzweiflung blickte er noch einmal zu den Gemälden. Wüßte er doch nur, wie man die Dämonen um Hilfe anflehte! Langsam folgte er den anderen.
In dem Tunnel lag ein schwaches Aroma in der Luft. Es roch nicht nach Weihrauch, sondern nach dem Staub, der übrigbleibt, wenn der Duft des Weihrauchs längst verflogen ist. Zwei kleine Schutzdämonen waren wie Wächter auf beide Wände gemalt.
Nach etwa drei Metern tauchten Regale auf, die man vor Jahrzehnten oder sogar vor Jahrhunderten aus stabilem Holz gefertigt hatte. Sie waren fast einen halben Meter tief und bestanden auf beiden Seiten jeweils aus vier Böden, die mit Pflöcken an senkrechten Streben befestigt waren. Während der ersten zehn Meter befand sich nichts darin. Ab dann jedoch waren sie vom Boden bis zur Decke vollgestopft. Ihr schimmernder Inhalt reichte weiter in den Berg hinein als der Lichtstrahl der Lampen.
Ein furchtbarer Schrecken durchzuckte Shan. »Nein!« rief er schmerzerfüllt aus.
Auch Tan blieb abrupt stehen. »Ich habe vor ein paar Wochen von diesem Fund gelesen«, sagte er beinahe flüsternd. »Aber ich hätte es mir nie so beeindruckend vorgestellt.«
Es waren Schädel. Hunderte von Schädeln. Schädel so weit Shan blicken konnte. Jeder lag in einem kleinen, halbkreisförmigen Altar, der aus religiösen Ornamenten und Butterlampen bestand. Und jeder war mit Gold überzogen.
Tan tippte einen der Schädel vorsichtig mit der Fingerspitze an und nahm ihn dann in die Hand. »Eine Gruppe Geologen hat die Höhle entdeckt. Zuerst dachten sie, es handle sich um Plastiken, bis sie einen davon umgedreht haben.« Er machte es vor und klopfte mit dem Finger gegen das Schädelinnere. »Bloß Knochen.«
»Begreifen Sie denn nicht, was das hier für ein Ort ist?« fragte Shan völlig entsetzt.
»Natürlich. Eine Goldmine.«
»Geweihter Boden«, widersprach Shan. Er legte die Hände um den Schädel, den Tan hielt. »Das heiligste aller Artefakte.« Tan gab nach, und Shan legte den Schädel zurück an seinen Platz im Regal. »Manche Klöster haben die Schädel ihrer am höchsten verehrten Lamas konserviert. Die lebenden Buddhas. Dies ist ihr Schrein. Mehr als ein Schrein. Dieser Ort hat große Macht. Er muß jahrhundertelang benutzt worden sein.«
»Man hat für die Kulturarchive eine Bestandsaufnahme vorgenommen«, sagte Oberst Tan.
Plötzlich erkannte Shan mit furchtbarer Gewißheit, was hier vor sich ging. »Der Schornstein.« Die Worte glichen einem trockenen Krächzen.
»In den fünfziger Jahren wurde in Tientsin ein komplettes Stahlwerk mit dem Erlös des Goldes
Weitere Kostenlose Bücher