Der freundliche Mr Crippen | Roman
Idee gewesen, nach Camden zu ziehen. Sie war des ständigen Lärms der Jennings unter ihnen müde geworden und hatte darauf bestanden, dass sie sich etwas suchten, wo sie allein wohnten. Seit sie der Music Hall Ladies’ Guild beigetreten war, ihre Freundschaft mit Mrs Louise Smythson erneuert hatte und mit so ehrbaren Paaren wie den Nashs und den Martinettis bekannt geworden war, hatten ihr die bisherigen Wohnverhältnisse nicht mehr ausgereicht. Peinlich waren sie ihr geworden. Nicht eine der anderen Ladys musste sich das Haus mit anderen Leuten teilen, und den meisten gehörte ihr Haus nicht nur, sondern sie hatten Bedienstete, die für sie arbeiteten. Sie konnte unmöglich eine ihrer Freundinnen zum Tee einladen, dachte sie, solange auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass sie von den marodierenden Kindern unten in der Diele angegriffen wurde oder dem betrunkenen Tölpel in seiner Unterwäsche begegnete. Sie hatte sich selbst auf die Suche nach einem passenden Haus gemacht, ohne Hawley etwas zu sagen, und erst als alles unterschrieben war, sagte sie ihm, dass sie den South Crescent verließen.
Hawley fand die ganze Sache nur lästig. Es bedeutete einen längeren Weg abends von seiner Praxis nach Hause und morgens zur Arbeit bei Munyon’s. Natürlich wurde das durch den Umstand aufgewogen, dass ihr neues Haus größer war und er und Cora gemeinsam zu Hause sein konnten, ohne sich begegnen zu müssen, dennoch war es unerträglich, dass sie einfach ein neues Haus mietete, ohne ihn zu fragen. Während er an diesem Abend die Straße entlangging und ihn der Gedanke, zu spät zu kommen, leicht ins Schwitzen brachte, klopfte er sich auf die Tasche, um sich zu vergewissern, dass das Geld noch da war. Er mochte Mr Micklefield auch nicht sonderlich und hätte ihm die Miete weit lieber vorbeigebracht, aber das wollte der Hauseigentümer nicht, und so blieb ihnen kaum eine andere Wahl, als ihn zu sich kommen zu lassen. Zuletzt war es nicht mehr so leicht gewesen wie früher, das Geld jede Woche zusammenzubekommen. Die Praxis lief nicht mehr so gut, weil nur fünf Minuten die Straße hinunter eine weitere Praxis aufgemacht hatte. Die Zahnärzte dort, das wusste er, waren richtige Zahnärzte, mit den nötigen Abschlüssen und so weiter, und er verlor nach und nach seine Patienten an sie. Das Gerede über seine schmerzhaften Behandlungsmethoden, seinen sparsamen Umgang mit Betäubungsmitteln, seine Liebe zur Chirurgie und seine unglaubliche Anzahl von Messern, Pinzetten und Zangen hatten seinen Patientenstamm ohnehin schon reduziert, doch jetzt ging er in einem Maß zurück, dass Hawley die drei Stunden abends oft allein in der Praxis verbrachte, ohne einen einzigen Patienten. Seit er für Munyon’s arbeitete, hatte er über die Jahre immer wieder Gehaltsaufbesserungen bekommen, doch die konnten den plötzlichen Einkommensverlust kaum wettmachen, und das Geld wurde knapp.
»Endlich!«, rief Cora, die von ihrem Essen aufsah, als er durch die Tür kam. »Wie viel Uhr ist es jetzt, würdest du sagen?«
»Ich wurde aufgehalten, meine Liebe«, antwortete er ruhig, »aber jetzt bin ich hier.«
»Es ist zwanzig nach sieben, obwohl ich dir ausdrücklich gesagt habe, du sollst um sieben hier sein. Ehrlich, Hawley, warum gehorchst du mir einfach nicht?«
Er sagte nichts, zog nur den Mantel aus, hängte ihn an den Ständer, nahm das Geld aus der Tasche und legte es auf den Tisch.
»Und bitte den Mann heute Abend um Himmels willen nicht herein«, sagte sie. »Gib ihm die Miete draußen in der Diele. Ich ertrage es nicht, wie der Kerl mich ansieht. Er sorgt dafür, dass ich mich wie ein Objekt fühle.«
»Das ist leichter gesagt als getan«, sagte Hawley. »Du weißt, wie er ist.«
»Sag ihm einfach, ich bin indisponiert. Es ist lächerlich, wie er hereinspäht und seine Nase in alles steckt. Ich will das nicht, Hawley, verstehst du mich? Und morgen früh brauche ich sechs Shilling. Kannst du sie bitte neben mein Bett legen?«
Hawley starrte sie an. »Sechs Shilling?«, fragte er. »Wofür brauchst du sechs Shilling?«
»Wie bitte?«, sagte sie und klang ganz so, als hätte er sie gerade grob beleidigt. »Muss ich mich dir jetzt erklären?«
»Du musst dich nicht erklären, meine Liebe. Natürlich nicht. Ich habe mich nur gefragt, wofür du …«
»Wenn du es unbedingt wissen musst, bei Lacey’s im Fenster ist ein Kleid, das ich kaufen will. Es ist wunderschön, Hawley, tiefrot, fast wie Blut. Es ist perfekt für
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