Der freundliche Mr Crippen | Roman
Flor scheuernden Vermieter geflissentlich übersehen hatte. Hawley war sicher, dass noch etwas fehlte, konnte jedoch nicht sagen, was es war. Aber selbst wenn er sich täuschte, würde Cora ausreichend Gründe finden, sich zu beklagen. Das war er gewohnt, und sosehr es ihn auch zermürbte, überraschte es ihn doch längst nicht mehr. Er öffnete den Ofen, wich ein Stück zurück, als die heiße Luft mit einem Schwall daraus entwich, und warf einen Blick hinein. Das Fleisch sah wunderbar saftig aus und roch herrlich. Ja, eines musste er noch tun, bevor er sich entspannen konnte. Hawley holte zwei schwere Tranchiermesser aus dem Schrank und begann, sie zu schärfen. Die Klingen sollten ohne jede Schwierigkeit durch das Fleisch gleiten. Er musste an seine Zeit im Schlachthof von McKinley-Ross denken.
Fünfzehn Minuten zu Fuß entfernt stand Ethel LeNeve fertig angekleidet vor dem Spiegel, nahm die einfache Silberkette ab, die sie sich vor einem Monat gekauft hatte, um sich etwas aufzumuntern, und ersetzte sie durch die Perlen ihrer verstorbenen Mutter. In der letzten Nacht hatte sie kaum geschlafen, so aufgeregt war sie bei dem Gedanken an die heutige Abendgesellschaft. Die Einladung hatte sie völlig überrascht. Was sie nicht wusste, war, dass sich Cora Crippen einen ganzen Abend lang den Kopf zerbrochen hatte, welche alleinstehende Frau sie noch einladen konnte, denn sonst wäre das Verhältnis nicht ausgeglichen gewesen. Aber alle ihre Freundinnen waren verheiratet, und ihr wollte keine passende Kandidatin einfallen. Hawley hatte Ethel vorgeschlagen, und Cora hatte zunächst abwehrend reagiert. »Wen?«, fragte sie. »Welche Ethel?«
»Ethel LeNeve«, antwortete er geduldig. »Meine Assistentin bei Munyon’s. Du hast sie verschiedentlich schon gesehen.«
»Was, das kleine, burschikos aussehende Ding mit der dicken blutroten Narbe auf der Lippe?«
»Meine Assistentin«, wiederholte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Eine reizende Person.«
»Oh, ich glaube kaum, dass sie zu uns passt«, sagte Cora. »Ist sie nicht etwas gewöhnlich?«
Gewöhnlicher als du, die mich in einer Music Hall aufgelesen hat?, dachte er. Gewöhnlicher als Louise Smythson, die als Bedienung in einem Pub gearbeitet hat? »Nein«, sagte er. »Sie ist sehr gesellig.«
»Nun, allein wird sie sein, nehme ich an«, sagte Cora zweifelnd. »Ich meine, wer würde die hässliche Kleine schon haben wollen?«
Hawley überkam eine Welle des Hasses auf seine Frau, als sie das sagte, doch er hielt sich für den Moment zurück. Endlich gab sie ihr Einverständnis, und so hatte Hawley Ethel am nächsten Tag bei der Arbeit eingeladen. Natürlich sagte sie, sie komme nur zu gerne. Als sie jetzt die Straße zum Haus der Crippens hinunterspazierte und der Schirm neben ihr aufs Pflaster klopfte, hoffte sie, dass sie sich mit Cora Crippen an diesem Abend ein wenig besser verstehen würde als sonst. Sie hatte sie bisher nur wenige Male gesehen, das erste Mal vor Jahren, als sie morgens zu Munyon’s hineingegangen war und ihren lieben Hawley kennengelernt hatte. Dann vor etwas mehr als einem Jahr, als sie dem guten Mann seine Schlüssel gebracht und das Pech gehabt hatte, eine wutentbrannte Cora erleben zu müssen, die, wie sie später erfuhr, gerade einen bösen Rückschlag in ihrer Karriere erlitten hatte. Einmal im Battersea Park an einem Sonntagnachmittag, als sie mit einem Buch auf einer Bank saß und die Crippens zufällig vorbeigekommen waren. Und schließlich war Cora eines Morgens in die Apotheke gekommen, hatte Geld von ihrem Mann gewollt und ausgesehen, als würde sie auf der Stelle der Schlag treffen, wenn sie es nicht bekäme. Cora war eine eigensinnige Frau, daran bestand kein Zweifel. Und sie mochte Ethel nicht.
Andrew und Margaret Nash überholten Ethel in einem Hansom-Taxi, ohne zu wissen, dass sie zur selben Einladung wollte. Die beiden schwatzten fröhlich miteinander, als sie sich dem Haus der Crippens näherten. Wie auch die Smythson waren sie ein wenig überrascht gewesen, zu deren Hochzeitstag eingeladen zu werden, konnten aus Anstandsgründen aber nicht ablehnen.
»Lass uns sehen, dass wir uns gegen elf wieder verabschieden«, sagte Andrew, als sie vor dem Haus vorfuhren. »Ich habe morgen in aller Frühe einen Termin und möchte nicht zu müde sein.«
»Natürlich, Liebster«, sagte Margaret, »ich bin sicher, da ist die Feier längst vorbei«, und fügte mit einem Blick nach draußen gleich noch hinzu: »Was für ein
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