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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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wie sie Victoria das nächste Mal, wenn sie sich trafen, in die Augen blicken sollte. Sie sah schon ihr hochmütiges Lächeln vor sich, weil sie Edmund endlich so weit bekommen hatte. Ethel würde Hawley nichts davon erzählen, das war sicher. Und was war mit Tom und seinem offensichtlichen Verdacht, dass Edmund womöglich kein Junge war? Was würde daraus entstehen? Würde er etwas sagen? Würde ihm einer glauben?
    Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und Hawley kam durch einen schmalen Spalt in den Raum geschlüpft, damit keinesfalls jemand in die Kabine sehen konnte und den wahrscheinlich zu Ethel gewordenen Edmund erblickte. Ethel sah erschreckt auf, als fürchtete sie, Tom DuMarqué käme herein, um das Unterbrochene zu Ende zu bringen. Sie war erleichtert, dass dem nicht so war.
    »Wie geht es dir?«, fragte Hawley bang, setzte sich neben sie aufs Bett und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Was war denn da los?«
    »Es geht mir gut«, sagte Ethel, die sich zusammenriss und dem Verlangen widerstand, völlig zusammenzubrechen und zu weinen, zu weinen und zu weinen. »Ich habe nur einen Schreck bekommen, das ist alles.«
    »Aber was war denn? Warum hat er dich so angegriffen?«
    »Ich weiß es nicht«, log sie. »Ich habe dagesessen und mich mit Victoria unterhalten …«
    »Ah«, sagte er wütend. »Ich hätte wissen sollen, dass das kleine Biest mit der Geschichte zu tun hat.«
    »Sie war nicht schuld daran«, sagte Ethel und verteidigte sie. »Wir haben nur geredet. Es war nett, und am Ende sagte ich, ich gehe zurück in unsere Kabine, und ich war ja schon fast hier, als er plötzlich auf mich losgegangen ist.«
    »Was für ein grässlicher Kerl«, zischte Hawley. »Ich hätte ihn über Bord werfen sollen.«
    »So etwas könntest du nicht.«
    »Doch, das könnte ich. Es hätte mir gefallen, ihn für das, was er dir antun wollte, ertrinken zu sehen.«
    Ethel schüttelte den Kopf. »Du könntest niemals jemanden umbringen, egal, wie wütend du bist«, sagte sie. »Ich kenne dich, Hawley, das wäre gegen deine Natur. Du bist Arzt. Du rettest Leben und beendest sie nicht.«
    Er runzelte die Stirn und sagte nichts.
    »Mein Hals tut weh«, sagte Ethel nach einer Weile.
    »Lass mich mal sehen«, antwortete er und untersuchte sie im Licht. »Das gibt vielleicht einen blauen Fleck«, sagte er, »aber sonst ist nichts.« Er roch an ihrem Atem. »Hast du Alkohol getrunken?
    »Nur etwas Champagner.«
    »Etwas? Das riecht mir nach einer ganzen Menge.«
    »Das war es nicht. Aber darauf kommt es jetzt auch nicht an. Etwas weit Wichtigeres ist geschehen«, sagte sie. »Ich glaube, er hat etwas gemerkt.«
    »Wer hat was gemerkt?«
    »Tom. Er weiß, dass ich kein junger Mann bin. Er weiß, ich bin eine Frau.«
    Hawley öffnete verblüfft den Mund. »Er weiß es?«, sagte er. »Du hast es ihm gesagt? Warum?«
    »Nein, natürlich habe ich es ihm nicht gesagt«, schimpfte sie. »Aber er hat mich gegen die Wand gedrückt, und ich weiß nicht, was er vorhatte, aber er hat mir zwischen die Beine gegriffen. Du hast ihn dann zwar gleich weggezogen, aber ich habe in seinen Augen gesehen, dass er es gemerkt hat.«
    »Bestimmt nicht.«
    »Hawley, ich sage es dir, er hat es gemerkt.«
    Hawley stand auf, lief durch die Kabine und dachte darüber nach. »Das ist schrecklich«, sagte er. »Was, wenn er es seinem Vater erzählt?«
    »Das könnte er, aber ich glaube es nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Tom DuMarqués Problem ist, dass er in Victoria Drake vernarrt ist, die ihrerseits unfähig zu sein scheint, die Finger von mir zu lassen. Deshalb hasst er mich so. Nein, wenn er es jemandem erzählt, glaube ich, ist es Victoria.«
    »Die es ihrer Mutter weitererzählen wird.«
    »Genau.«
    »Und die erzählt es dem ganzen Schiff.«
    »So ist es.«
    »Das geht nicht. Er muss aufgehalten werden.«
    Ethel zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste nicht, wie«, sagte sie. »Er scheint durch nichts aufzuhalten zu sein. Ich glaube, er will mich kriegen, auf die eine oder andere Weise. Besonders jetzt. Besonders nach dem, was heute Abend geschehen ist. Er will mein Blut sehen.«
    Hawley überlegte. »Vielleicht sollte ich mit Monsieur Zéla sprechen«, sagte er, »und ihm sagen, dass es eine Art Missverständnis gegeben hat.«
    »Denkst du, er wird dir glauben?«
    »Ich weiß es nicht. Würdest du es glauben?«
    Sie seufzte. »Nicht so leicht«, gab sie zu. »Aber ich denke nicht, dass Monsieur Zéla irgendeinen Grund hat, uns wehzutun, und er scheint

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