Der freundliche Mr Crippen | Roman
auch nicht der Mann dafür zu sein. Er ist ein Gentleman von der Sorte ›Leben und leben lassen‹. Er mischt sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Aber selbst wenn er es täte, hätten wir die Schuld ganz allein bei uns zu suchen. Diese Sache war von Anfang an falsch. Was für ein Unsinn, mich so zu verkleiden.« Ihr Unwille über ihre Situation wuchs immer weiter. »Ich meine,
warum
konnten wir nicht einfach als Mann und Frau reisen? Unsere Namen hätten wir ja durchaus ändern können, aber dieses Versteckspiel …« Sie schüttelte verdrossen den Kopf. »So etwas wie das
musste
doch früher oder später geschehen.«
»Ich habe es dir erklärt«, sagte Hawley. »Man muss die gesellschaftlichen Konventionen beachten. Ein unverheiratetes Paar könnte sich niemals eine Kabine teilen, so wie wir es tun. Wir würden von allen gemieden, und bisher war es doch eine sehr angenehme Reise, oder?«
»Abgesehen davon, dass ich mich ständig eines männerfressenden Mädchens erwehren und aufpassen muss, nicht von einem minderjährigen Strolch ermordet zu werden? Ja, davon abgesehen ist es eine Traumreise.«
»Wir hätten nichts anderes tun können. Denk an die Konventionen.«
»Ach, diese dummen Konventionen«, sagte Ethel wütend, »die bringen mich zur Weißglut.«
»Es gibt sie nun einmal. Ich habe dir doch gesagt, wenn wir erst in Kanada sind, können wir unsere wahre Identität wieder annehmen, und niemand wird sich darum kümmern, ob wir verheiratet sind oder nicht.«
Ethel seufzte. »Das ist alles, was ich will«, sagte sie. »Ich will einfach nur, dass wir glücklich sind. Nur wir zwei.«
»Und das werden wir sein«, antwortete er und setzte sich zurück zu ihr aufs Bett. »Ich verspreche es dir.« Sie küssten sich, und Hawley hielt sie lange in den Armen, tröstete sie und sprach ihr Mut zu. Ihr neues Leben würde allen Widrigkeiten der letzten Zeit ein Ende setzen.
Ethel war sich da nicht so sicher. Kanada kam zwar immer näher, aber ein paar Tage würde es noch dauern, bis sie dort waren.
Nur ein paar Meter entfernt in der Präsidentensuite führte Matthieu Zéla ein Wortgefecht mit seinem Neffen Tom.
»Du dummer Kerl«, rief er. »Dir ist doch klar, wenn ich nicht gekommen wäre, hätte er dich so gut wie sicher über Bord geworfen?«
»Das hätte er nicht«, sagte Tom, der sich gedemütigt fühlte, weil er überwältigt worden war. »Ich kann schon auf mich aufpassen.«
»Auf dem Grund des Ozeans nicht.«
»Ich hätte ihn zu Boden strecken können.«
»Ach, mach dich nicht lächerlich. Im nächsten Moment schon wärst du über Bord gegangen, und das wäre dein Ende gewesen. Noch ein sinnloser Tod in der Familie. Du hast doch in letzter Zeit nicht sonst noch was getan, was du nicht hättest tun sollen?«
Tom hob die Brauen. »Was meinst du?«
»Gibt es in Antwerpen Mädchen, denen du etwas zu nahe gekommen bist?«
Tom schien überrascht. Er wusste nicht, warum ihn sein Onkel das fragte. »Nein«, sagte er. »Ich verstehe dich nicht. Wovon redest du da?«
»Ach, schon gut«, sagte Matthieu schroff und schüttelte den Kopf. »Als ich eingewilligt habe, mich um dich zu kümmern, war ich einfach nur davon ausgegangen, dass es irgendeine Art von Anstand in dir gibt, das ist alles. Und was habe ich mir eingehandelt? Einen Raufbold, der so wütend wird, wenn er ein Mädchen, das er will, nicht kriegt, dass er dem, der mehr Glück hat, die Kehle aufschlitzen will.«
»Hör zu, Onkel Matthieu«, sagte der Junge. »Es gibt da was, das du wissen solltest.«
»Ich weiß alles, was ich wissen muss, glaube mir«, rief Matthieu. »Und ich verspreche dir, Tom, wenn du in Kanada so weitermachst, setze ich dich ohne Umschweife vor die Tür. Ich habe mein eigenes Leben zu führen und werde mich nicht von einem von euch DuMarqués in Schwierigkeiten bringen lassen, verstehst du mich? Ich bin zu alt, um mich mit solchem Unsinn auseinanderzusetzen.«
»Ja, ich verstehe«, sagte Tom ruhig. »Aber hörst du mir bitte nur einen Moment lang zu? Ich muss dir etwas sagen.«
»Was? Was sollte das sein?«
Tom überlegte kurz und benetzte sich die Lippen. Er fragte sich, wie er es in Worte fassen sollte, ohne dass er verrückt erschien. »Dieser Edmund«, sagte er, »mit dem ist etwas nicht in Ordnung.«
»Nicht in Ordnung? Wie meinst du das?«
»Er ist … Ich kann es nicht erklären. Er scheint nicht zu haben, was alle anderen haben.«
Matthieu starrte ihn an und fragte sich, ob sein Neffe bemerkt
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