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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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ins Nichts. Die Demütigung des Nachmittags lag ihr immer noch auf der Seele.
    »Was ist denn mit dir? Du siehst aus, als stünde das Ende der Welt bevor.«
    »Nichts ist mit mir«, fuhr Victoria auf. »Ich bin nur hungrig, das ist alles. Bist du immer noch nicht fertig?«
    »Ich beeile mich, so gut ich kann. Drängle mich nicht.«
    »Es ist fast acht Uhr.«
    »Es ist das Privileg einer Lady, zu spät zu kommen«, erklärte ihr die Mutter. »Das ist etwas, was du noch lernen musst, mein Kind. Die Gentlemen warten zu lassen. Wenn wir als Erste an den Tisch kämen, wäre das für alle äußerst peinlich.«
    Für Victoria war der vor ihnen liegende Abend schon jetzt mehr als peinlich, wusste sie doch, dass Edmund Robinson mit am Tisch sitzen würde, und sie konnte nur beten, dass der Tisch groß genug war, um möglichst weit von ihm entfernt zu sein. Ihr gemeinsamer Nachmittag hatte ein abruptes Ende gefunden, als sie ihn mit in die Kabine nahm, um ein neues Kartenspiel zu holen. Als die Tür fest hinter ihnen geschlossen war, hatte sie ihm einen Platz angeboten, während sie nach den Karten sehen wollte. Er ging jedoch zum Ankleidetisch und betrachtete die gerahmten Fotografien, die Mrs Drake dort aufgestellt hatte.
    »Mein Vater«, sagte Victoria, trat hinter ihn und sah über seine Schulter auf das Bild eines dünnen, alternden Mannes mit gebeugten Schultern, dessen dunkle Augen aufgebracht in die Kamera starrten. »Er mag es nicht, fotografiert zu werden. Es macht ihn richtiggehend wütend.«
    »Das sieht man«, sagte Edmund, der ihn ernst betrachtete.
    Bevor sie sich wieder abwandte, glitt Victorias Blick leicht nach links und blieb gebannt an Edmunds Nacken haften, an dieser hellen, zarten Haut, die so völlig ohne jeden Makel war, von so vollkommenem Weiß wie ein Garten voll frisch gefallenem, jungfräulichem Schnee. Sie atmete seinen Duft ein und zwang sich zurückzutreten. Edmund fuhr herum, als er ihren Atem an seinem Ohr spürte.
    »Wie klug von dir, ein zusätzliches Kartenspiel mitzubringen«, sagte er, und sie sah ihn an und vergaß für einen Moment, warum sie hier waren.
    »Ja, richtig«, sagte sie, »die Karten. Wo hab ich sie nur hingetan?«
    »Victoria, hörst du mir überhaupt zu?« Victoria riss sich aus ihrem Tagtraum und wandte sich ihrer Mutter zu, die aufbruchbereit an der Tür stand. »Jetzt komm schon«, sagte Mrs Drake. »Es ist fünf nach acht. Die anderen sollten bereits da sein. Es wird Zeit.«
    Victoria legte die Stirn in Falten, stand auf und machte sich von ihrer Erinnerung los. »Ja doch«, sagte sie.
    Martha Hayes hatte für den Abend ebenfalls eines ihrer Lieblingskleider gewählt, eine Robe aus weißem Chiffon, die ihr Léon Brillt, die eine wahre Liebe ihres Lebens, zur Verlobung geschenkt hatte. Sie hatte fast alle Geschenke Léons weggeworfen, aber dieses Kleid war so schön und so teuer, dass sie es nicht übers Herz brachte, sich von ihm zu trennen. Zwar erinnerte es sie an den Abend, an dem er es ihr geschenkt hatte, ihren wohl denkwürdigsten Abend zusammen (an dem sie sich ihm zum ersten Mal hingegeben hatte), doch sie versuchte, sich von dieser Erinnerung frei zu machen und es zu genießen, wie sie sich in diesem Traum aus Weiß fühlte. Als sie aus ihrer Kabine trat, traf sie auf Billy Carter in seiner weißen Abenduniform, der ebenfalls unterwegs in den Speisesaal war.
    »Oh, guten Abend, Miss Hayes«, sagte er, beeindruckt von ihrer Verwandlung. »Sie sehen zauberhaft aus.«
    »Ich danke Ihnen, Mr Carter«, sagte sie mit einem Lächeln. »Und danke auch für die nette Einladung. Welch eine Ehre, mit dem Kapitän essen zu können.«
    »Nichts zu danken. Wir haben heute Abend eine angenehme Gruppe beisammen, denke ich. Kapitän Kendall liegt sehr daran, seine Passagiere besser kennenzulernen. Er ist ein äußerst freundlicher Mensch«, log er und dachte: Nur mich hasst er.
    »Sind Sie schon oft zusammen gefahren?«
    »Das ist unser erstes Mal«, antwortete er. »Der übliche Erste Offizier, Mr Sorenson, musste wegen seines Blinddarms ins Krankenhaus.«
    »Nicht wirklich?«, rief sie überrascht. »Mein Verlobter ist vor drei Monaten fast an einem geplatzten Blinddarm gestorben.« Die Worte, so wahr sie waren, waren ihr entschlüpft, bevor sie darüber nachdenken konnte, und Martha verspürte sogleich den Wunsch, sie zurückzunehmen. Aber da betraten sie schon den Speisesaal, und Billy Carter führte sie hinüber, um sie dem Kapitän vorzustellen. Der Tisch war rund,

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