Der freundliche Mr Crippen | Roman
und vier der anderen Gäste saßen bereits beim Kapitän: Matthieu Zéla und sein Neffe Tom sowie John Robinson und sein Sohn Edmund.
»Ich denke, die Robinsons kennen Sie bereits«, sagte Billy Carter und zog Marthas Stuhl zurück, damit sie sich setzen konnte. »Aber haben Sie auch schon Monsieur Zéla und seinen Neffen kennengelernt?«
»Heute Nachmittag«, sagte Martha und grüßte den Mann mit einem Kopfnicken. »Wie schön, Sie wiederzusehen. Und Tom«, sagte sie mit einem Blick auf den Jungen, der sie genauso misstrauisch betrachtete wie zuvor auf Deck. Einen Moment später schon wanderten seine Augen jedoch von ihr weg, als Mrs Antoinette Drake mit ihrer Tochter hinter sich hereinkam und auf den Tisch zuschritt, als wollte sie verkünden, das Kommando über das Schiff liege fortan bei ihr, und alle sollten auf die Knie fallen und ihr huldigen.
»Entschuldigen Sie unsere Verspätung«, sagte sie und nahm den leeren Platz zwischen dem Kapitän und Mr Robinson ein, der ein wenig zur Seite rückte. »Ich hoffe, wir haben Sie nicht warten lassen. Ich musste noch etwas Puder auflegen.«
»Ich bin auch erst gerade gekommen, Mrs Drake«, sagte Martha Hayes. »Das ist das Vorrecht der Lady, wie man so sagt.«
»Oh! Miss Hayes«, antwortete Mrs Drake, und ihr Lächeln verblich etwas, als sie sah, wer ihr da gegenübersaß. »Sie sind aber auch wirklich überall, nicht wahr?«
Martha lächelte liebenswürdig und fragte sich, was um alles in der Welt sie getan hatte, um das Missfallen dieser Frau zu erregen.
Damit war nur noch ein Platz frei, zwischen Billy Carter und Tom DuMarqué, und Victoria blieb nichts übrig, als ihn einzunehmen. Tom leckte sich die Lippen wie ein Löwe, der Anstalten machte, sich auf seine Beute zu stürzen, sie erst aber noch etwas beschnüffeln wollte. Es folgte die förmliche Vorstellung, dann gab der Kapitän dem Steward das Zeichen, den ersten Gang zu servieren.
Edmund saß Victoria gegenüber und versuchte, ihrem Blick auszuweichen, konnte aber nicht anders, als von Zeit zu Zeit zu ihr hinüberzusehen. Auch ihm war es peinlich, was am Nachmittag geschehen war. Zwischen den beiden schien jedoch ein unausgesprochener Pakt geschlossen, jetzt kein Wort darüber zu verlieren. Nachdem Victoria endlich die neuen Karten gefunden hatte, war Edmund zur Kabinentür gegangen, aber sie hatte sich ihm in den Weg gestellt und ihn vielsagend angelächelt.
»Etwas sagt mir, dass du nicht mit mir allein sein willst«, erklärte sie.
Er schüttelte überrascht den Kopf. »Ganz und gar nicht, Victoria«, entgegnete er. »Warum denkst du das?«
»Ich glaube, du hast Angst vor dir selbst, was mich betrifft.«
»Victoria …«, begann er, doch bevor er weiterreden konnte, legte sie ihm einen Finger auf die Lippen. Es war ein prickelndes Gefühl, und sie hätte stundenlang so dastehen können, die Fingerspitze auf seinen vollen roten Lippen. Sie wusste, was sie jetzt tun wollte, zog den Finger zurück, schloss die Augen, legte die Hand hinter seinen Kopf und zog ihn zu sich heran, damit er sie küsste.
»Victoria!«, sagte Edmund und machte sich von ihr frei. »Das ist keine gute Idee. Ich denke, wir sollten zurückgehen an Deck.«
»Gleich«, schnurrte sie.
»Victoria, nein«, sagte er noch einmal, wich zurück und schüttelte den Kopf. »Bitte, hör auf.«
»Was stimmt denn nicht mit dir?«, fragte sie, und in ihren Augen glitzerte der Zorn. »Findest du mich nicht attraktiv? Weißt du nicht, dass ich eines der begehrtesten Mädchen von Paris war? Warum behandelst du mich so?«
»Ich behandele dich überhaupt nicht«, sagte er abwehrend und schob sich Richtung Tür. »Ich glaube nur, dass sich das Auf und Ab des Meeres bei dir bemerkbar macht.«
»Das
was?
«
»Wirklich, Victoria. Ich denke nicht, dass wir … Im Übrigen habe ich versprochen … meinem Vater, meine ich, dass wir uns etwa um diese Zeit in unserer Kabine treffen. Ich sollte allmählich gehen.«
Damit lief er hinaus und vergaß, die Tür hinter sich zu schließen – was sie für ihn tat, lautstark, um dann die nächsten zehn Minuten in der Kabine auf und ab zu laufen, Edmund zu verfluchen und sich selbst dafür zu verdammen, dass sie sich so weit vorgetraut hatte. Sie verfiel ihm immer mehr. Seine Unschuld und seine Furcht vor der Intimität betörten sie. Es muss sein erstes Mal sein, dachte sie, geradezu überwältigt von dem Gedanken.
»Was für eine bezaubernde Art, den Abend zu verbringen«, sagte Mrs Drake, und
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