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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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etwas von meinem eigenen Haar abschneiden.«
    »Aber es funktioniert. Machst du es?«
    »Die Leute werden es durchschauen«, sagte sie verzweifelt.
    »Die Leute glauben, was man ihnen sagt. Niemand erwartet, dass sich eine erwachsene Frau wie ein Junge anzieht. Warum auch? Es wird funktionieren, glaube mir.«
    Ethel seufzte dramatisch. »Und als wen sollen wir uns ausgeben?«, fragte sie. »Unter welchen Deckmantel wollen wir schlüpfen?«
    »Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte er. »Es wird ein Spiel. Ich werde sagen, mein Name ist Mr John Robinson, und du bist …«
    »Mr John …?«
    »… und du bist mein Sohn Edmund.«
    »Dein Sohn«, sagte sie in sachlichem Ton. »Hawley, das ist doch keine merkwürdige Fantasie, die du dir da ausmalst? Denn dann kann ich dir jetzt schon sagen, dass ich …«
    »Es ist eine Maskerade, mehr nicht, und vielleicht finden wir unseren Spaß daran. Bitte, Ethel. Ich glaube wirklich, dass das eine vernünftige Art ist, von hier zu entkommen und neu anzufangen.«
    Sie überlegte. Es war das Lächerlichste, was sie je gehört hatte, und sie verstand nicht, warum er so entschlossen war. Natürlich hatte er recht. Wenn die übrigen Erste-Klasse-Passagiere herausbekamen, dass sich ein unverheiratetes Paar eine Kabine teilte, wurde das sicher als Skandal betrachtet, doch im Gegensatz zu Hawley störte das Ethel nicht weiter. Sie war keine Frau, die sich sonderlich um die Meinung anderer kümmerte.
    »Wenn wir in Kanada ankommen«, sagte sie, »können wir dann damit aufhören? Können wir dann wieder der gute alte Hawley und seine Ethel sein?«
    »Das verspreche ich dir.«
    Sie drehte sich um und sah sich noch einmal im Spiegel an. »Ich gebe einen ziemlich hübschen Kerl ab, wie?«, fragte sie.
    Drei Tage später hatte sie sich nicht nur daran gewöhnt, die neuen Kleider zu tragen, es begann ihr sogar zu gefallen. So zu tun, als wäre sie jemand, der sie nicht war, gab ihr ein Gefühl von Abenteuer und Freiheit. Hübsch, wie sie war mit ihren großen Augen, den markanten Wangenknochen und vollen Lippen, war sie ein ziemlich gut aussehender Junge, was Victoria Drake dazu gebracht hatte, ihr nachzustellen. Zum Glück war Victoria heute Morgen noch nicht beim Frühstück. Ethel lächelte. Edmund Robinson und nicht Ethel LeNeve zu sein, barg ein Gefühl von Gefahr und Herausforderung, und sie konnte plötzlich anders gehen, anders sprechen, anders handeln und anders denken. Sie war in Antwerpen als Junge an Bord gegangen und glaubte, dass sie die Fahrt über den Atlantik zu einem Mann machen würde.
    Nachdem er sein Tablett beladen hatte, sah sich Edmund Robinson erneut im Saal um, der immer noch bis an den Rand gefüllt schien. Hinten an der Wand jedoch, am Ende einer Reihe mit Zweiertischen, schien noch ein Tisch frei zu sein, und so lief er schnell hinüber und setzte sich in genau dem Augenblick hin, als jemand den anderen Stuhl unter dem Tisch hervorzog. Edmund hob den Blick und sah in das Gesicht des finster dreinschauenden Tom DuMarqué, der sein völlig überladenes Tablett ihm gegenüber auf den Tisch stellte.
    »Tom«, sagte er genervt, denn er hätte wirklich gerne in Frieden gefrühstückt. »Wie nett.«
    »Edmund«, sagte Tom mit einem knappen Nicken. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich dazusetze?«
    »Absolut nicht«, antwortete Edmund und schüttelte den Kopf. »Bitte mach es dir bequem.«
    Tom ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, sog die Luft ein und legte eine Hand unter den Tisch, als hätte er Schmerzen.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Edmund und sah den Schatten, der über Toms Gesicht strich.
    »Jaja.«
    »Es sieht nur so aus, als hättest du dir irgendwie wehgetan.«
    »Es ist alles
okay«
, sagte Tom, hob die Hand zurück auf den Tisch und nahm sein Frühstück vom Tablett: Haferflocken, Saft, Toast, Eier mit Schinken, zwei Croissants und eine Tasse Kaffee. Edmund sah ihm mit einem Lächeln zu. Er selbst aß zum Frühstück normalerweise nicht mehr als eine Scheibe Toast mit einer Tasse Tee, heute aber hatte er alle Vorsicht in den Wind geschlagen und sich auch einen Teller Rührei geholt.
    »Du hast richtig Hunger, wie?«, fragte er.
    »Ja.«
    Obwohl sie am Abend zuvor einander beim Essen gegenübergesessen und sich freundlich unterhalten hatten, spürte Edmund, dass Tom wenig für ihn übrighatte. Die sehnsüchtigen Blicke des Jungen auf die neben ihm sitzende Victoria Drake waren kaum zu übersehen gewesen, und er war sich mehr als

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