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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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erklären«, sagte Hawley verlegen.
    »Ich denke, das solltest du.«
    Hawley setzte sich auf einen Stuhl und fasste nach Ethels Hand, als sie sich ihm gegenüber aufs Bett sinken ließ. »Ich denke, wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte er und begann mit der Rede, die er sich zuvor zurechtgelegt hatte, wobei er nicht wusste, wie Ethel sie aufnehmen würde. »Weißt du, ich habe einen Freund, der ist im letzten Jahr mit seiner Verlobten nach Amerika gefahren, und es gab einen Skandal an Bord, als man herausfand, dass sie sich eine Kabine teilten, obwohl sie noch unverheiratet waren. Sie wurden die ganze Reise über gemieden. Fast zwei Wochen lang. Ich sorge mich, dass es uns genauso ergehen könnte, deshalb dachte ich, es ist besser, wenn niemand von unseren wahren Gefühlen füreinander erfährt.«
    Ethel sah ihn staunend an. »Hawley, das kannst du nicht ernst meinen«, sagte sie.
    »Ich meine es völlig ernst«, antwortete er. »Siehst du, was ich denke, ist, wenn du dich wie ein Junge anziehst, dann …«
    »Ein
Junge?
«
    »Hör mir erst zu, Ethel. Wenn du dich wie ein Junge anziehst, wird niemand ernsthaft darüber nachdenken, warum wir uns eine Kabine teilen. Den Leuten wird es egal sein.«
    Ethel hielt den Atem an. Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie sah die Kleider an, die er gekauft hatte, und musste lachen. »Hawley, du bist so prüde!«, sagte sie. »Wir haben 1910 , um Himmels willen, nicht 1810 . Niemand stört sich heute mehr an solchen Dingen.«
    »Aber natürlich, sei nicht so naiv.«
    »Und wenn?«, fügte sie mit Entschiedenheit hinzu. »Was macht das schon? Wir lieben uns, oder etwa nicht?«
    »Natürlich tun wir das.«
    »Und wir sind erwachsen?«
    »Ja, aber …«
    »Und wollen nach unserer Ankunft in Kanada heiraten, oder?«
    »Sobald es menschenmöglich ist.«
    »Dann frage ich dich, Hawley: Was geht es irgendjemanden an, wie wir unser Leben bis dahin einrichten? Selbst wenn wir die Reise oben im Krähennest verbringen, zusammengekuschelt in einem Rettungsboot oder den Mond anheulend, was geht das jemanden an, solange wir für die Reise bezahlt haben?«
    Hawley stand auf, ging zum Fenster und zog den Vorhang ein Stück zur Seite. Er sah hinab auf die Straßen von Antwerpen. Der Markt schloss gerade, und er bemerkte eine Gruppe Jungen, die den Obst- und Gemüsestand beobachteten. Es war klar, was sie vorhatten. Er fragte sich, ob sie dem Standbesitzer nicht aufgefallen waren. Wenn der Stand mir gehörte, dachte er, würde ich eine Peitsche unter ihm aufbewahren, um Diebe abzuschrecken. »Ethel«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich es nicht für absolut notwendig hielte. Du weißt, ich war bereits zweimal verheiratet.«
    »Natürlich weiß ich das, aber ich verstehe nicht, warum …«
    »Beide Ehen sind gescheitert. Oh, ich weiß, Charlotte ist gestorben, und Cora hat mich wegen eines anderen Mannes verlassen, aber ich war mit beiden nicht glücklich, und das ist die Wahrheit. Mit dir ist es anders. Ich glaube, wir haben die Chance, wirklich glücklich zu werden. Zum ersten Mal in meinem Leben spüre ich echte Zuneigung und Liebe, und wenn wir morgen das Schiff betreten, ist das der Anfang unseres neuen Lebens. Fern von Europa, nur du und ich, und ich möchte, dass jeder einzelne Moment dieses Lebens vollkommen ist. Diese Reise über den Atlantik sind unsere vorgezogenen Flitterwochen, verstehst du nicht? Und wenn wir uns die abfälligen Kommentare der anderen Passagiere anhören müssen, wenn wir brüskiert werden, was für eine Reise wäre es dann? Ein elftägiges Elend. So dürfen wir unser gemeinsames Leben nicht beginnen. Und was, wenn uns der Skandal bis nach Kanada verfolgt und es uns schwer macht, neue Freunde zu finden? Ich frage dich, müssen wir uns das antun? Bitte, Ethel. Für mich. Ziehe es wenigstens in Betracht.«
    Sie schüttelte langsam den Kopf, nicht ablehnend, sondern voller Staunen über seine Ideen, und wandte sich noch einmal den Kleidern zu, griff nach einer der Kniebundhosen und hielt sie sich vor den Körper, um die Länge zu überprüfen. Sie besah sich damit im Spiegel, die Hose schien perfekt zu passen. Sie nahm die Perücke vom Bett, türmte das eigene Haar hoch auf den Kopf, senkte das Ding darüber und zog es an den Seiten herunter. Wieder sah sie in den Spiegel und war nicht sicher, ob sie lachen oder weinen sollte. »Sie müsste noch etwas angepasst werden«, sagte sie. »Vielleicht müsste ich auch

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