Der Fromme Dieb
blieben wir, bis wir die Glocke zur Komplet läuten hörten. Inzwischen, so glaubten wir, hätte Aldhelm Shrewsbury wieder verlassen haben und unterwegs sein müssen. Es war sehr spät und die Nacht finster.«
»Und es regnete«, erinnerte Cadfael sie.
»Ja, auch das. Keine Nacht also, um länger als nötig im Freien zu verweilen. Wir glaubten, der Hirte müsse längst wieder auf dem Heimweg sein, überhaupt nicht erbaut darüber, die sinnlose Reise angetreten zu haben.«
»Und was habt ihr getan – die ganze Zeit?« fragte Cadfael.
Sie lächelte wehmütig. »Wir haben geredet. Wir haben zusammen im Heu gesessen, um uns warm zu halten, und haben geredet. Von seinem Beruf, den er frei gewählt hat, von der Sklaverei, in die ich hineingeboren wurde, und wie wir am Ende doch ganz ähnlich wurden«, sagte sie ernst. »Ich wurde in die Falle hineingeboren, und er tappte freiwillig hinein, um einer anderen Knechtschaft zu entkommen, mit offenen Augen und doch ohne zu sehen, wohin er den Fuß setzte. Und dann, die Hände und Fuße selbst in Fesseln, träumte er davon, mich zu befreien.«
»So wie Ihr ihm heute abend ja auch die Freiheit angeboten habt. Sei’s drum, und wie ging es weiter? Ihr hörtet die Glocke zur Komplet und hieltet es für ratsam zurückzukehren. Wieso war er dann allein auf dem Pfad?«
»Wir wagten es nicht, zusammen zurückzukommen. Und falls ihn jemand sähe, war es besser, er kam auf dem Weg zurück, den er angeblich von Longner aus genommen hatte. Ich selbst schlüpfte wieder durchs Friedhofstor herein, und er ging durch den Wald zu dem Pfad, den er vorher zu unserem Treffen gegangen war. Es wäre nicht ratsam gewesen, zusammen zu kommen. Er hat den Frauen abgeschworen«, sagte sie mit einem bitteren Lächeln, »und ich darf mich nicht mit Männern einlassen.«
»Er hat sein endgültiges Gelübde noch nicht abgelegt«, sagte Cadfael. »Höchst bedauerlich übrigens, daß er den Pfad allein gegangen ist. Wären zwei gemeinsam auf den Toten gestoßen, hätten sie füreinander bürgen können.«
»Wir beide?« rief sie, kurz auflachend. »Sie hätten uns niemals geglaubt… Eine Leibeigene und ein Novize kurz vor seinem Gelübde – und beide eben aus dem Heu gekommen?
Man hätte gesagt, wir hätten uns verbündet, um den Mann zu töten. Und jetzt«, sprach sie, und ihre Bitternis ging in beherrschte Traurigkeit über, »jetzt habe ich Euch wohl alles gesagt und habe Euch doch nichts gesagt. Aber es ist die ganze Wahrheit. Er mag ein guter Lügner und ein kühner Dieb sein, sonst aber ist Tutilo so unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Wir haben sogar zusammen das Nachtgebet gesprochen, als die Glocke erklang. Wer würde das schon glauben?«
Cadfael glaubte es, konnte sich aber Herluins Miene vorstellen, wenn diese Behauptung vor ihm abgegeben worden wäre. »Wenigstens habt Ihr mir erzählt«, sagte er nachdenklich, »daß mehr Menschen von Aldhelms Erscheinen wußten als nur zwei oder drei von uns. Wenn Bénezet belauscht hat, wie Jerome sein Wissen ausplauderte, wie viele andere sonst, so frage ich mich, werden es dann noch vor dem Abend erfahren haben? Prior Robert kann verschwiegen sein, aber Jerome?…
Da habe ich meine Zweifel. Und könnte Bénezet all das, was er aufgeschnappt hat, nicht an Rémy weitergegeben haben, so wie er es bei Euch tat? Was immer ein Kammerdiener aufschnappt, kann Wasser auf die Mühlen seines Herrn sein.
Und was Rémy hört, könnte sehr gut mit dem Gönner besprochen worden sein, den er umwirbt. O nein, ich würde nicht sagen, daß wir unsere Zeit vertan haben. Ich brauche jetzt nur eine Weile zum Nachdenken. Geht zu Bett, mein Kind, und zermartert Euch nicht das Gehirn.«
»Und wenn Tutilo nicht aus Longner zurückkommt?« fragte sie, zwischen Hoffnung und Furcht schwankend.
»Darüber braucht Ihr Euch sicher keine Gedanken zu machen«, sagte Cadfael. »Er wird zurückkommen.«
Noch vor der Prim, im schimmernden Licht einer klaren, stillen Dämmerung, brachten sie Tutilo zurück. Der März war auf Sammetpfoten gekommen, Buschwindröschen blühten in den Wäldern, und die ersten Primeln begannen sich eben zu öffnen, nachdem sie Frost, Regen und Schlamm heil überstanden hatten. Die Longner-Burschen, die zu beiden Seiten ihres ausgeliehenen Spielmanns ritten, brachten diesen bis zum Torhaus und warteten schweigend, bis er abgestiegen war. Der Abschied, den sie ihm bereiteten, während sie ihm die Zügel seines Ponys abnahmen und sich anschickten, den
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