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Der Fromme Dieb

Der Fromme Dieb

Titel: Der Fromme Dieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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Herluins Stimme kratzte, aber er sprach deutlich, vielleicht ein wenig lauter, als es nötig gewesen wäre, weil es ihn solche Mühe kostete, die Worte überhaupt herauszubringen. »Es ist Lukas, Kapitel 13, Vers 27: ›Ich sage euch: Ich kenne euch nicht, wo ihr her seid; weichet alle von mir, ihr Übeltäter!‹« Er hob den Kopf, das Gesicht grau vor Entrüstung, und schlug das Buch fest zu, bevor er in die Runde blickte, in all die ehrfürchtigen Gesichter, die ihn umgaben wie die Pfosten eines Zauns, eine Barriere, durch die es für ihn nur einen würdevollen Rückzug gab – auf Kosten eines anderen!
    »Ich wurde schmachvoll hintergangen und betrogen. Sie zeigt mir, daß ich falsch daran tat, jemals einem Lügner und Dieb zu vertrauen. Es geschah also nicht mit ihrem Willen, nicht auf ihren Befehl, daß Bruder Tutilo – darf ich ihn überhaupt noch Bruder nennen? – sie stahl und, schlimmer noch, eine andere unschuldige Seele in der Finsternis seines Vergehens zur Sünde verführte, wenn nicht gar in den Tod schickte. Sein Verbrechen ist Blasphemie, nicht nur Diebstahl, denn er bediente sich vom ersten Augenblick an einer gottlosen Lüge, indem er vorgab, es handele sich um einen Auftrag der Heiligen, und er hat sein Verbrechen seither mit Lüge um Lüge zu verdecken versucht. Jetzt hat sie mir seine Schurkerei deutlich offenbart und mir gezeigt, daß all diese Irrfahrten seit ihrer Entführung in der Tat von ihr selbst ersonnen wurden, um dorthin zurückzukehren, von wo sie geraubt wurde. Vater Abt, ich ziehe mich bekümmert und beschämt zurück. Das Mitleid, das sie gewiß für das notleidende Ramsey empfunden haben wird, hat er zunichte gemacht. Wir haben kein Anrecht auf sie.
    Ich erkenne es mit Tränen an und bete zu ihr um Vergebung!«
    Für sich selbst! Gewiß nicht für den glücklosen Jungen, der in diesem Augenblick in seiner engen Steinzelle schlief. Für ihn gäbe es wohl kaum Vergebung, wenn es nach Herluin ging.
    Jede Pein dieser Demütigung würde auf Tutilo abgewälzt werden, so wie ihm jetzt jede noch so kleine Schuld aufgeladen wurde, damit Herluin sich herauswinden konnte, Herluin, unschuldig und fromm, Opfer eines bösartigen Betruges, Herluin, der sich nichts vorzuwerfen hatte als seine Gutgläubigkeit.
    »Wartet!« rief Abt Radulfus. »Fällt noch kein Urteil. Denn man kann sich durchaus selbst betrügen, nicht nur andere. Im ersten Zorn sollte kein Mensch verurteilt werden. Und die Heilige hat uns noch nichts über Shrewsbury mitgeteilt.«
    Nur allzu wahr, dachte Cadfael, denn sie könnte an uns – nicht weniger als an Ramsey – durchaus Kritik zu üben haben.
    Und was, wenn sie diesen Augenblick und diese Zuhörerschaft wählen würde, um uns wissen zu lassen, daß sie uns nur aus reiner Barmherzigkeit besucht und daß das, was in ihrem schönen Reliquienschrein liegt, in Wirklichkeit der Körper eines jungen Mannes ist, der einen Mord beging, um sie für Shrewsbury zu gewinnen, und daß dieser Mann durch einen Unfall starb, unter Umständen, die es notwendig machten, ihn verschwinden zu lassen? Ein schlimmeres Verbrechen als jenes, das Tutilo beging, um Winifred für Ramsey zu gewinnen.
    Cadfael war damals überzeugt gewesen, und war es heute noch immer, daß er nach ihrem Willen gehandelt hatte, als er sie ehrfürchtig in das Grab zurücklegte, aus dem er sie hervorgeholt hatte, den Mörder daraufhin im leeren Sarg verschwinden ließ, und sie, Winifred, an die Ruhestätte zurückgebracht hatte, an der sie sein wollte. Aber war es nicht möglich, daß Tutilo aus gleicher Überzeugung gehandelt hatte?
    Das eine Unternehmen hatte die Heilige soeben verdammt.
    Nun wurde das andere auf die Probe gestellt. Welch Glück für Prior Robert, daß er sich wenigstens in diesem Augenblick in absoluter Unschuld dem Schrein näherte. Aber ich, dachte Cadfael, wie auf glühenden Kohlen, könnte bald für all meine Sünden zahlen müssen.
    Nun, es wäre nur recht und billig!
    Prior Robert mochte einige Skrupel gehabt haben, was seine eigene Ehrenhaftigkeit betraf, obwohl dies eine Schwäche war, der er nur selten erlag. Jetzt stieg er jedenfalls sehr feierlich die Stufen zum Altar empor und hob die Hände vors Gesicht, um ein letztes Mal, die Augen geschlossen, inbrünstig zu beten.
    Und er hielt sie weiter geschlossen, während er das Evangelium aufschlug und den Zeigefinger blind auf die Seite niederfahren ließ. In der Pause, die folgte, bevor er die Augen wieder öffnete und benommen auf das

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