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Der Fromme Dieb

Der Fromme Dieb

Titel: Der Fromme Dieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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weigern, uns diesen Dienst zu erweisen, wenn Ihr es verlangt.«
    Niemand hatte eine Bemerkung dazu abzugeben, bis Robert Bossu es auf liebenswürdige Weise auf sich nahm, der Billigung Stimme zu verleihen, die sonst durch bloßes Schweigen zum Ausdruck gekommen wäre. »Vater Abt, bestimmt Ihr«, sagte er, »und wir sind damit einverstanden.«
    Radulfus erklomm die drei niedrigen Stufen und öffnete das Evangelium, die Augen auf das Kreuz geheftet, um nicht zu sehen, auf welche Stelle der aufgeschlagenen Seite sein Finger weisen würde.
    »Tretet näher«, sprach er, »und überzeugt Euch selbst, daß hier kein Betrug vorliegt und daß die Worte, die ich Euch jetzt laut vorlesen werde, die sind, die die sortes mir gesandt haben.«
    Herluin trat ohne Zögern näher und spähte begierig über Radulfus’ Schulter. Graf Robert blieb ruhig stehen, wo er war, und erachtete eine solche Bestätigung als unnötig.
    Abt Radulfus blickte hinab auf die Stelle, wo sein Zeigefinger ruhte, und sprach emotionslos: »Ich bin im Evangelium des heiligen Matthäus, Kapitel 20, und die Zeile lautet: ›Also werden die Letzten die Ersten, und die Ersten die Letzten sein.‹«
    Dagegen war nichts einzuwenden, dachte Cadfael, der etwas abseits stand und unbehaglich die Stirn runzelte. Es war, wenn man so wollte, eher verdächtig, daß der erste Versuch eine so eindeutige Antwort ergab; die Vorhersagen von Bischöfen waren bekanntlich oft äußerst verschwommen. Hätte dies ein anderer vorgelesen als Abt Radulfus, Radulfus mit seiner unbeugsamen Aufrichtigkeit, so hätte man fast den Verdacht haben können… Doch das hieße, an der Macht der Heiligen zweifeln. Bei ihr, die einen gelähmten Jüngling zu sich rufen und mit ihrer unsichtbaren Gnade stützen konnte, während er auf den Stufen ihres Altars seine Krücken zur Seite legte – warum zweifeln, daß sie die Seiten eines Evangeliums umzublättern und einen gläubigen Finger hin zu den Worten zu führen vermochte, die ihrem Willen entsprachen?
    »Man könnte meinen«, sagte Graf Robert nach einem kurzen, höflichen Schweigen aus Respekt vor jedem anderen, der vielleicht das Wort zu ergreifen wünschte, »daß dies Verdikt mich als den, der als letzter hinzukam, an die erste Stelle rücken will. Ist das auch Eure Deutung, Vater?«
    »Der Sinn scheint eindeutig«, sprach Radulfus. Sorgfältig schlug er das Evangelium zu, legte es genau auf die Mitte des Schreins, schritt die Stufen hinab und trat zur Seite. »Nun ist die Reihe an Euch.«
    »Gott und die heilige Winifred mögen sprechen!« sagte der Graf, stieg ohne Eile hinauf und blieb einen Augenblick reglos stehen, bevor er mit bedachtsamen, feierlichen Bewegungen, für alle deutlich sichtbar, das Buch mit seinen muskulösen Händen niederlegte, es mit seinen Daumen teilte und öffnete.
    Als er es ganz aufgeschlagen hatte, glättete er die gewählten Seiten mit beiden Handflächen, ließ den Zeigefinger dann einen Augenblick darüber schweben, bevor er ihn senkte. Er hatte weder hinabgeblickt noch die Fingerspitzen über die Ecken der Blätter gleiten lassen, um zu ertasten, wo etwa im Buch seine Seite sich befand. Es gab Möglichkeiten, die sortes Biblicae zu manipulieren, doch er hatte diese peinlichst und für jeden sichtbar gemieden. Es war ihm nicht ernst mit seinem Bemühen, dessen war sich Cadfael sicher, und es würde ihm seinen Spaß verderben, eine List anzuwenden. Seine Absicht war, Prior Robert und Subprior Herluin – wie zwei Kampfhähne, mit purpurroten Kehllappen kollernd – aufeinanderzuhetzen.
    Der Graf las laut und übersetzte, so flüssig wie ein Geistlicher, in die Landessprache: ›Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin, könnet Ihr nicht hinkommen.‹« Er hob nachdenklich die Augen. »Es ist Johannes, Kapitel 7, Vers 34. Vater Abt, das ist ein seltsamer Spruch, denn sie kam zu mir, als ich sie gar nicht suchte – ich wußte ja nicht einmal von ihrer Existenz. Sie war es, die mich fand. Und es ist gewiß ein schwer zu lösendes Rätsel, daß ich nicht hinkommen kann, wo sie ist, denn schließlich ist sie hier, und ich bin neben ihr. Wie deutet Ihr das?«
    Cadfael hätte es ihm sagen können, hütete aber seine Zunge, auch wenn es reizvoll gewesen wäre, die Frage zu beantworten, um zu hören, was dieser feinsinnige Mann darauf erwidert hätte. Es war sogar sehr verlockend, denn Robert Bossu war ein Mann, der jene Ironie zu schätzen gewußt hätte.
    Er hatte sich dem Disput hier in Shrewsbury

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