Der Fromme Dieb
auf, schlug aber, entsetzt über seinen Ausbruch, sogleich beide Hände vors Gesicht, wie um alle Spuren seines Lachens wegzuwischen. »Und die arme Seele, ganz ohne Hilfe, und jemand… O Gott, wie kann jemand nur…« Und dann, als er plötzlich begriff, was daraus gefolgert wurde, sprang er auf, um es zu widerlegen: »O nein, das nicht! Nicht Jerome, das ist ausgeschlossen.« Ganz bestimmt, ganz entschieden äußerte er die Gewißheit, er, der die Leiche des Mannes gefunden hatte.
»Nein, natürlich glaubt Ihr das nicht.« Kein Protest, kein Aufschrei, nur die Äußerung einer anderen Gewißheit. Er war jetzt hellwach und bei Sinnen, und seine goldenen, weit geöffneten Augen ruhten zuversichtlich auf seinen Befragern: dem klösterlichen und dem weltlichen. Als vernunftbegabte Männer konnten beide unmöglich glauben, daß Jerome – auch wenn er eine beschränkte, erbärmliche, arglistige kleine Seele sein mochte – den Kopf eines bewußtlosen Mannes mit einem schweren Stein zertrümmern könnte.
»Da Ihr nicht in Longner wart«, fragte Hugh, »wo habt Ihr Euch dann herumgetrieben, um auf diesem Pfad zurückzukommen?«
»Irgendwo, nur um aus den Augen, aus dem Sinn zu sein«, sagte Tutilo eilfertig. »Ich lag im Heu über dem Pferdemarktstall, bis ich die Glocke zur Komplet hörte, und dann ging ich fast bis zur Fähre, damit es, falls jemand mich bemerkte, den Anschein haben würde, als käme ich aus Longner.«
»Allein?« fragte Hugh.
»Natürlich allein.« Er log frisch drauflos und mit fester Stimme. Es ist sinnlos zu lügen, wenn man es nicht mit Überzeugung tut.
Aber das war alles, was man ihm hatte entlocken können.
Nein, er hatte auf dem Hin- oder dem Rückweg niemanden getroffen, der seine Aussagen hätte bestätigen können. Er hatte gestanden, was er getan hatte, und der Rest schien ihm keine besonderen Sorgen zu bereiten. Die beiden verriegelten erneut seine Tür, hängten den Schlüssel an seinen gewohnten Platz im Pförtnerhaus und zogen sich ins Herbarium zurück, um sich an der behaglichen Glut des Kohlenbeckens zu wärmen und das zunehmende Dunkel des Abends auszusperren.
»Und jetzt glaube ich«, sagte Cadfael, »wird mir vergeben sein, wenn ich dir erzähle, was er in der restlichen Zeit jener Nacht, von der er nichts sagen wollte, getan hat.«
Hugh lehnte sich an die Holzwand und sagte gelassen: »Ich hätte mir denken können, daß du dort Zugang hast, wohin niemand sonst eingelassen wird. Was ist es denn, was er mir nicht gesagt hat?«
»Mir hat er es auch nicht gesagt. Ich habe es von jemand anderem erfahren, aber nur unter der Bedingung, es nicht weiterzugeben, auch nicht an dich. Aber ich denke, sie wird mir jetzt das Recht einräumen. Die junge Daalny – du hast sie bestimmt schon hier gesehen, obwohl sie sich stets abseits hält.«
»Rémys Sängerin«, sagte Hugh, »das junge Ding aus der Provence?«
»Aus Irland, genauer gesagt. Ja, die meine ich. Ihre Mutter wurde in Bristol zum Verkauf angeboten, eine Beute aus Übersee. Daalny wurde als Sklavin geboren.
Der Menschenhandel existiert noch immer, und Bischof Wulstans Predigten haben höchstens bewirkt, daß er mißbilligt wird. Ich kann mir vorstellen, daß unser heiliger Dieb derzeit zwischen zwei verlockenden Zielen schwankt und nicht recht weiß, ob er ein Heiliger oder ein fahrender Ritter werden soll. Er träumt davon, den einzigen Sklaven, dem er in diesen Breiten je begegnet ist, zu befreien, obwohl er, wie ich vermute, noch nicht recht begriffen hat, daß es sich hier um ein Mädchen handelt, ein hübsches noch dazu, das bereits ein Auge auf ihn geworfen hat.«
»Willst du damit sagen«, fragte Hugh belustigt, »daß er in jener Nacht mit ihr zusammen war?«
»Ja, das war er, und er wollte es nicht zugeben, weil ihr Herr großen Wert auf ihre Sangesstimme legt und fürchtet, das Mädchen könnte ihm irgendwie entschlüpfen. Folgendes hat sich abgespielt: Der Diener, der mit ihnen umherzieht, hörte zufällig, daß Aldhelm auf dem Weg ins Kloster war, um den Bruder zu identifizieren, der ihn zum Forttragen der Heiligen überredet hatte. Das erzählte der Diener Daalny weiter, da er genau wußte, daß sie eine Schwäche für Tutilo hat. Sie wiederum warnte diesen, und er ersann das Märchen, daß er nach Longner gerufen worden sei. Dann erhielt er die Erlaubnis zu gehen von Herluin, der nicht wußte, daß Aldhelm hier erwartet wurde. Tutilo ging darauf wie ein ehrenwerter Mann zum Tor hinaus und schlug den Weg
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