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Der Fromme Dieb

Der Fromme Dieb

Titel: Der Fromme Dieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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Angelegenheiten – und vielleicht auch wichtigere – bis morgen warten.
    »Und über welche besonderen Pflichten wollte der Graf sich heute nachmittag mit dir unterhalten?« fragte Cadfael, als sein Freund schon auf die Tür zuging.
    »Über die Pflicht aller vernunftbegabten Menschen«, sagte Hugh, seine Worte sorgfältig abwägend, »in festgefahrenen Streitigkeiten nach Möglichkeiten zu suchen, den Parteienhader aus der Welt zu schaffen, wenn keine Seite eine Chance hat zu gewinnen. Um es einfach auszudrücken: Wie man aus einem Sumpf kommt, bevor einem der Dreck bis ans Kinn reicht. Der Frage kannst du dich widmen, während du bei der Komplet ein Wort in Gottes Ohr sprichst. «
    Cadfael hätte selbst nicht sagen können, was ihn dazu bewog, sich nach der Komplet noch einmal den Schlüssel zu holen und Tutilo so spät aufzusuchen. Vielleicht war es die zarte, reine Stimme, die fast unheimlich aus dem Innern der Zelle drang, als er, von der letzten Abendandacht kommend, den Hof überquerte. Ein schwacher Lichtschimmer kam aus dem hohen vergitterten Fenster; der Gefangene hatte seine kleine Lampe noch nicht gelöscht. Der Gesang war ganz sanft, nicht für jemand draußen bestimmt, aber so absolut klar, so genau in der Mitte eines jeden Tones, wie ein Pfeil im Scheibenzentrum, daß er in der dämmrigen Stille selbst bis zum entferntesten Winkel des Hofes reichte und daß Cadfael, von seiner Schönheit überwältigt, im Gehen erschauerte. Das Zeitmaß stimmte nicht ganz überein; Tutilo war jetzt erst beim Schlußgesang der Messe angelangt. Etwas so Wunderschönes war im Chor der Kirche noch nie vernommen worden. Gewiß war Anselm ein guter Vorsänger und hatte in seiner Jugend vielleicht ebensogut gesungen, aber Anselm war trotz all seiner Fertigkeiten einfach alt, während Tutilos Stimme alterslos schien und einem Kind oder einem Engel hätte gehören können. Gesegnet sei das Talent, dachte Cadfael, das uns verderbte und fehlbare Kreaturen, die wir weder Engel noch Kinder sind, befähigt, solche Töne hervorzubringen, die einer anderen Welt angehören. Welch unverhoffte, unverdiente Gnade! Nun, das konnte als ein Zeichen gedeutet werden.
    Oder aber einfach nur das sein, was ihn veranlaßte, den Schlüssel im Pförtnerhaus zu holen, um noch einmal zu versuchen, dem Jungen, bevor er einschlief, etwas Brauchbares abzuringen: etwas, das ihn, Cadfael, weiterbringen würde, etwas, von dem Tutilo vielleicht nicht einmal wußte, daß er es wußte. Oder, dachte Cadfael rückblickend, es war ein heftiger Rippenstoß der heiligen Winifred gewesen, die ihre Gnade von ihrem Grabe in Gwytherin aus bis hierher wirken ließ, als Zeichen dafür, daß sie dem ruchlosen jungen Mann vergeben hatte, der den erlesenen Geschmack besessen hatte, sie zu begehren, wie sie auch dem ruchlosen alten Mann vergeben hatte, der mit ähnlicher Dreistigkeit all diese Jahre davon ausgegangen war, ihren Willen auszuführen. Was auch immer der Grund war, er lenkte den Schritt zum Pförtnerhaus, und die bezaubernde und qualvolle Schönheit von Tutilos Gesang folgte ihm. Bruder Pförtner ließ ihn, ohne zu fragen, den Schlüssel nehmen. In der Abgeschiedenheit hatte sich Tutilo ganz in sein Schicksal ergeben, ja es schien sogar, als sei er dankbar für die Stille und den Frieden, durch die er ungestört über seine jetzige Lage und seine zukünftigen Aussichten nachdenken konnte. Welche verwickelten Motive Tutilo auch immer ins Kloster getrieben hatten, es war kein Falsch an seinem Glauben; wenn er nichts Böses getan hatte, so dachte Tutilo bestimmt, dann konnte ihm auch nichts Böses widerfahren. Oder aber – die andere Möglichkeit – es gelang ihm, so wie er nun einmal war, jedermann derart von seiner Sanftmut zu überzeugen, daß ihm nicht länger der gebotene Argwohn entgegengebracht wurde und er somit wie ein Aal aus seiner Falle schlüpfen konnte. Bei Tutilo war man nie ganz sicher. Daalny hatte recht. Man mußte ihn sehr gut kennen, um zu wissen, wann er log und wann er die Wahrheit sagte.
    Tutilo kniete noch vor dem schlichten, kleinen Kreuz an der Zellenwand und blickte sich nicht gleich um, als der Schlüssel im Schloß knirschte und die Tür sich hinter ihm öffnete. Er hatte zu singen aufgehört und schaute versonnen vor sich hin, die Augen weit geöffnet, das Gesicht friedlich und abwesend. Erst als die Tür geräuschvoll zufiel, wandte er sich um und erhob sich. Bei Cadfaels Anblick lächelte er, ein mattes Lächeln, und nahm auf

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