Der fünfte Attentäter: Thriller (German Edition)
stießen.
»Wir sind fast oben! Nur noch eine Stufe!«, rief Marshall.
»Ich schaffe es nicht«, wiederholte sein Vater.
»Du schaffst es, Dad, ganz bestimmt. Du schaffst es!«
»Sir, Sie müssen aufhören, herumzuzappeln«, meinte die Angestellte, die sich anschickte, den Rollstuhl anzuheben.
»Und los!« Marshalls Stimme brach. »Die letzte Stufe. Auf C …!«
»Marsh, es tut mir leid … Ich kann nicht mehr.«
»Du kannst es, Dad! Auf C …!« Marshalls Stimme klang flehentlich.
Sein Vater schüttelte den Kopf, während ihm die Tränen in die Augen traten. Er umklammerte die Armlehnen seines Stuhles, und seine Hände zitterten, als würde er versuchen, aus der Haut zu fahren, sich aus dem Stuhl zu wuchten. Als wollte er vor seinem eigenen Körper davonlaufen.
»A … B …«
Mit einem letzten Krachen rumpelte der Rollstuhl über die Schwelle des Geschäfts. Eine Welle warmer Luft schlug ihnen entgegen, als sie ins Innere rollten.
Marshall sah eine Gruppe von Kunden vor sich, fast alles Mütter mit Kindern, die sich ihnen zwischen den Kleiderständern hindurch näherten.
Alles war in Ordnung.
»Moment mal, ich glaube, da läuft etwas aus«, verkündete die Angestellte.
Das Geräusch war unverkennbar. Ein stetes Plätschern auf dem Holzboden. Marshall hörte es, schaffte es aber nicht, hinzusehen. Er brachte es einfach nicht über sich.
»O Gott!«, platzte die Angestellte heraus. »Ist das etwa …?«
»Pippi.« Eine Fünfjährige begann zu kichern und deutete auf die kleine Pfütze, die sich unter dem Stuhl von Marshalls Vater bildete.
Marshall stand hinter dem Rollstuhl und umklammerte die Handgriffe, damit er nicht umkippte. Er konnte nur den Rücken seines Vaters sehen. Jahrelang hatte er sich gefragt, wie groß sein Vater tatsächlich war. Doch in diesem Moment, als sein Vater förmlich auf dem Stuhl zusammensank, während der Urin immer noch vom Stumpf seines Beines heruntertropfte, wusste Marshall, dass sein Vater niemals kleiner aussehen würde.
»Hier …« Eine Kundin reagierte schnell und zog Taschentücher aus ihrer Handtasche. Marshall kannte sie. Sie arbeitete mit seiner Mutter zusammen in der Kirche. Es war die Frau von Pastor Riis; alle nannten sie Cricket. »Hier, Marshall, lass mich dir helfen …«
In einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Freundlichkeit fielenalle Angestellten und Kunden im Geschäft ein, warfen Papiertaschentücher auf die Schweinerei, plauderten beiläufig und taten, als würde so etwas ständig passieren. Sagamore war eine Kleinstadt. Eine Kirchenstadt. Eine Stadt, die sich seit dem Unfall der Lusks stets um Marshall gekümmert hatte … und um seine Mom … und vor allem um seinen armen Dad im Rollstuhl.
Aber als sich all diese Frauen um ihn scharten, sah Marshall nicht seinen Vater an oder die Urinpfütze. Das Einzige, was er sah, war der blonde Junge mit dem unordentlichen Haarschopf, der ihn aus der Ecke des Geschäfts heraus anstarrte, neben einem der Warenregale.
Es war eine Sache, vor einem ganzen Raum mit Fremden gedemütigt zu werden. Aber es war etwas ganz anderes, vor jemandem gedemütigt zu werden, den man kannte.
»Marshall, wir haben deine Mutter angerufen. Sie ist unterwegs«, erklärte die Frau des Pastors. Sie hatte sich zu ihm hinabgebeugt.
Marshall nickte und tat, als wäre alles in Ordnung. Aber er ließ keine Sekunde den Blick von dem blonden Jungen in der Ecke … Es war ein Klassenkamerad aus der fünften Klasse namens Beecher. Er sah nicht weg.
In Beechers Blick lagen Anteilnahme und Trauer. Und auch Mitgefühl. Marshall aber sah nur das Mitleid.
4. KAPITEL
Heute
Washington D. C.
»Moment mal, du kennst ihn?« Ich stehe neben Totte in seinem Verschlag und starre auf das Polizeifoto von Marshall. Meine Beine sind steif, mein ganzer Körper ist taub, und meine Haut fühlt sich an, als wäre das Blut in meinen Adern plötzlich geronnen. »Beecher …«
»Er heißt nicht Ozzie. Er heißt Marsh. Marshall. In der siebten Klasse nannten wir ihn immer Marshmallow.«
»Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«
»In der Junior Highschool.«
»Und kannte er sie?«, erkundigt sich Totte.
Ich sehe vom Telefon hoch. Ich dachte, das hier wäre eine Falle, die mir der Präsident gestellt hätte. Aber aus Tottes Frage schließe ich, dass er ebenfalls befürchtet, es könnte eine Falle von ihr sein, der anderen Person, die zufällig aus unserer kleinen Stadt stammt.
Clementine.
Meine Jugendliebe, mein erster Kuss und
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