Der fünfte Mörder
in diesen Keller geschleppt haben. Das muss doch irgendwem â¦Â«
»Still!«, zischte ich und fasste ihn am Unterarm.
Erstaunt sah er mich an. Aber dann hörte er es auch. Irgendwo über uns erklang leise Musik. Barock. Ein barockes Flötenkonzert.
Kurze Zeit später standen wir in dem Raum, aus dem die Musik kam. Ein ausgemergeltes, streng riechendes und zu Tode erschrockenes Männlein starrte uns an, als fürchtete es eine Tracht Prügel. Auf einem Tischchen neben der Tür thronte ein groÃes Kofferradio.
»Vivaldi?«, fragte ich freundlich.
Das seit Tagen nicht rasierte Männchen nickte erst nach Sekunden.
»Darf ich fragen, was Sie hier machen?«
Die Frage war natürlich idiotisch. Der Mann hatte sich in diesem Zimmer im Erdgeschoss ein gemütliches Lager eingerichtet, das war offensichtlich. Und nach der Menge an Plunder, die sich angesammelt hatte, hauste er nicht erst seit gestern hier. In einer Ecke standen, säuberlich nach Farbe und GröÃe sortiert, schätzungsweise einhundert leere Flaschen â abgesehen vom Radio vermutlich das Einzige von Wert im Besitz des alten Mannes, der uns immer noch anstarrte, als könnten wir jeden Moment das Feuer eröffnen. Er war im Begriff gewesen, sich anzukleiden, als wir ihn überrumpelten. Nun stand er da, ein Bein schon in der Hose, das andere noch in der Luft, und wagte nicht mehr, sich zu rühren. Die Flöten jauchzten und jubelten. Die beiden hohen Sprossenfenster gingen zur StraÃe. Balke riss sie auf.
»Ich ⦠Also ich wohne hier, sozusagen«, erwiderte der illegale Hausbewohner und schlüpfte endlich ins zweite Hosenbein, wobei er jedoch das Gleichgewicht verlor und auf eine hinter ihm liegende ranzig aussehende Matratze plumpste. Dort knäulten sich zwei braungraue Wolldecken, die ich nicht einmal mit der Schuhspitze berühren mochte, und ein speckiges Kopfkissen. Der Raum stank nach Schnaps, Urin und seit Ewigkeiten nicht gewaschener Kleidung.
»Was ⦠wer sind Sie?«, fragte der kleine Mann, nun schon etwas mutiger. Ich schätzte sein Alter auf weit über siebzig Jahre. »Muss ich jetzt hier weg?«
Ich zeigte ihm meinen Dienstausweis, den er jedoch aufgrund seiner schlechten Augen nicht lesen konnte, und erklärte ihm geduldig, wer wir waren und dass wir ihm nichts Böses wollten.
»Bin ich verhaftet?«, wollte er daraufhin wissen.
»Das werden wir noch sehen«, knurrte Balke und sah sich mit angewiderter Miene um.
»Erst mal haben wir nur ein paar Fragen an Sie«, korrigierte ich beschwichtigend. »Seit wann wohnen Sie denn schon hier?«
Neben dem Kopfende der Matratze lag ein Stapel handbeschriebenes Papier, obenauf ein teuer aussehender Füllfederhalter.
»Hab ich gefunden«, beeilte sich der kulturbeflissene Obdachlose zu versichern, dem mein Blick nicht entgangen war. »Ich mache hier nichts kaputt, ich stehle nicht. Ich belästige niemanden. Ich wohne bloà hier.«
»Seit wann?«, wiederholte ich meine Frage.
Er überlegte mit schiefer Miene und kleinen Augen. »Nicht leicht zu sagen. Es hat noch geschneit, wie ich das hier entdeckt habe. So was finden Sie ja nicht so leicht, heutzutage. Heute sind leer stehende Häuser für gewöhnlich verrammelt und verriegelt. Manchmal schlagen sie sogar die Fenster heraus, um unsereinem das Leben sauer zu machen. Aber wen schädige ich hier, frage ich Sie? Ich tue doch nichts.«
»Sind Sie nur nachts hier oder manchmal auch tagsüber?«
»Hängt vom Wetter ab. Jetzt, zum Beispiel, wollte ich gerade los. Bisschen Klimpergeld auftreiben. Ich habe noch nichts gefrühstückt.«
»Haben Sie hier in den letzten Wochen jemanden getroffen? Handwerker vielleicht?«
»Nein.« Etwas zu eilig schüttelte er den Kopf. »Nie. Keinen Menschen.«
»Merkwürdige Geräusche gehört auch nicht?«
»Auch nicht. Hier ist niemand. Nur ich.« Er griff sich an den Kopf, von dem das schüttere weiÃe Haar kreuz und quer abstand. »Obwohl, wenn ich ⦠Nein. Beim besten Willen. Ohne Kaffee und etwas zu beiÃen funktioniert mein Erinnerungsvermögen einfach nicht richtig.«
»Was hätten Sie denn gern zum Frühstück?«, fragte ich unter Balkes verdutztem Blick.
Der Alte verstand meinen Bestechungsversuch schneller als mein Mitarbeiter.
»Ein doppelter Espresso wäre nicht zu verachten nach dem
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