Der fünfte Mörder
abgesetzt hat, war ein regelrechtes Massaker«, erfuhr ich abends am Computer. Die Neuigkeit war auch für ihn noch keine halbe Stunde alt. »Irgendeine Familienfeier, ein Killertrupp mit Maschinenpistolen ist gekommen und hat alles zusammengeschossen. Es hat um die dreiÃig Tote gegeben, etwa ein Drittel Frauen. AuÃer Schivkov selbst und ein paar Kindern hat anscheinend kaum jemand überlebt.«
»Ein Racheakt der Konkurrenz?«
»Dafür sprechen in der Tat einige Indizien. Die Killer haben bulgarische Armeemunition benutzt. Ein halbes Jahr später haben badende Kinder in einem See etwa zwanzig Kilometer vom Tatort entfernt zwei MP s gefunden, die nachweislich bei der SchieÃerei benutzt wurden. Kalaschnikow-Nachbauten, ebenfalls aus bulgarischer Produktion.«
»Gibt es Hinweise darauf, wer hinter dem Massaker steckt?«
»Bisher nicht. Das Ganze hat sich in Chiprovtsi abgespielt, einem Gebirgsnest in der Nähe der serbischen Grenze. Es hat anderthalb Stunden gedauert, bis die ersten Polizisten aufgetaucht sind. Die kamen aus der nächsten Kreisstadt, deren Namen ich leider nicht aussprechen kann. Sie haben einen Berg Leichen gefunden, ein paar Schwerverletzte und ein paar wenige Unversehrte.«
»Schivkov war bei der letzten Gruppe?«
»Der war zu dem Zeitpunkt anscheinend schon verschwunden. Zumindest taucht sein Name in dem Protokoll nicht auf, das mein Gewährsmann für mich übersetzt hat. Das Protokoll wurde aber auch erst zwei Tage später geschrieben, als die Kripo aus Sofia sich endlich bis zum Tatort durchgefragt hatte. Man hat, so gut es eben ging, die Toten identifiziert, ein paar Ãberlebende verhört und Patronenhülsen eingesammelt. Von der Dorfbevölkerung hat natürlich niemand etwas gesehen oder gehört. Und am Ende haben Ihre Kollegen denselben Schluss gezogen wie Sie: Ein Mafiaclan hat einen anderen ausgelöscht. Für die war das eher eine gute Nachricht als Anlass zu kräftezehrenden Ermittlungen.«
Wir machten noch ein wenig Smalltalk, und gerade als ich das Gespräch beendet hatte, wurde ein Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür geschoben. Ich hörte die Stimmen meiner Mädchen. Es war zweiundzwanzig Uhr neunundfünfzig.
Der Montag begann mit einer guten und einer schlechten Nachricht.
Die gute kam von Klara Vangelis per Telefon: »Sieht aus, als hätten wir das Versteck gefunden, wo die Bulgaren ihr Bauholz gelagert haben. Eine leer stehende Fabrik südlich von Ketsch.«
Die schlechte überbrachte Sönnchen: »Ich sagâs ungern, Herr Gerlach. Aber es gibt schon wieder eine Wasserleiche. In der Rheinschleife bei Gernsheim. Die Mail finden Sie im Posteingang.«
Der Fundort der neuen Leiche lag in der Nähe von Darmstadt und damit in Hessen.
»Und wie kommen die darauf, dass uns das interessiert?«, fragte ich. »Denken die, wir haben zu wenig Arbeit?«
Sönnchen lachte. »Wahrscheinlich denken sie, dass wir uns mit Wasserleichen inzwischen gut auskennen.«
Die Espressomaschine im Vorzimmer zischte und brummte. Es begann, nach Kaffee zu duften.
Ich hatte die Mail â es waren einige Anhänge dabei â inzwischen gefunden und überflogen. Der unbekannte Tote war komplett bekleidet gewesen (braune Jeans und beiges Poloshirt), hatte jedoch nichts bei sich getragen, anhand dessen man ihn hätte identifizieren können. Das Gesicht war â möglicherweise durch eine Schiffsschraube â so zerstört, dass eine Rekonstruktion vermutlich nicht gelingen würde. Nach Schätzung des Arztes hatte er zwischen ein und drei Tagen im Wasser gelegen. Die Beschreibung passte auf Millionen von Männern: Einszweiundsiebzig groÃ, ziemliches Ãbergewicht, Alter zwischen fünfundvierzig und fünfundsechzig. Todesursache: Möglicherweise war er erwürgt worden. Am Körper zahlreiche Spuren von Misshandlungen. Keine blauen Kunststofffasern an den Handgelenken. Besondere Kennzeichen: siehe Attachment. Was die Hessen interessierte: Ob wir irgendeine Ahnung hatten, wer der Tote sein könnte. Der Fall hatte keinerlei Ãhnlichkeiten mit unseren beiden Wasserleichen aus dem Neckar, was mich sehr beruhigte.
»Das soll Runkel übernehmen«, rief ich und leitete die Mail zusammen mit einem Einzeiler an meinen Untergebenen weiter.
Nach einem eilig hinuntergestürzten Kaffee machte ich mich auf den Weg zu der verlassenen Fabrik, wo die
Weitere Kostenlose Bücher