Der Fürst der Maler
entfachte, der eines Tages über Italien hinwegfegen sollte.
»Die Grablegung des alten Glaubens«, hörte ich eine vertraute Stimme hinter mir.
Ich hatte Gio’ beobachtet, der unter meiner Aufsicht den Firnis auf die Grablegung Christi auftrug, und fuhr herum. »Leonardo! Wie schön, dich zu sehen«, rief ich, als ich ihn mit seiner Reisetruhe in der Tür zum Kreuzgang erkannte.
Er umarmte mich und küsste mich auf beide Wangen. »Raffaello, mein Junge! Was, zum Teufel, machst du bei den Dominikanern in San Marco? Hast du wie Fra Bartolomeo dein Gelübde abgelegt? Muss ich nun Fra Raffaello zu dir sagen?«
»Nein, Leonardo. Ich habe hier mein Atelier eröffnet. Ich habe zwei Lehrlinge, und ich arbeite an mehreren Aufträgen gleichzeitig: Ich brauche Platz …«
Ich deutete auf die vollendete Grablegung Christi, auf das Tafelbild der Katharina von Alexandria, zwei Entwurfskartons von Madonnen mit Jesuskind, die Thronende Madonna in Grisaille-Untermalung für die Kirche Santo Spirito und ein Holzmodell für die Marmorverkleidung der Domkuppel, das ich zusammen mit Baccio entworfen hatte. Seit einigen Wochen interessierte ich mich für die Architektur und hatte begonnen, den antiken Schriftsteller Vitruvius zu lesen. Baccio hatte das Buch in der Bibliothek von San Marco entdeckt.
Leonardo ging an mir vorbei zur Grablegung. Gio’ trat zur Seite und warf dem Maestro einen ehrfürchtigen Blick zu, den dieser lächelnd erwiderte. »Wie heißt du, mein Junge?«
»Giovanni da Udine, Maestro.«
»Wie alt bist du?«, fragte Leonardo.
»Ich bin zwanzig Jahre alt, Maestro.«
»Und sehr hübsch …« Leonardo ergriff Gio’s Hand, und der Firnis tropfte vom Pinsel auf den Boden. Keiner von beiden schien das zu bemerken.
»Danke, Maestro«, sagte Gio’ leise.
Ich trat zwischen die beiden. »Gio’ ist mein Schüler, nicht deiner. Ich lehre ihn die Kunst der Malerei, nicht die Kunst der Liebe!«
»Er ist sicherlich auf beiden Gebieten sehr talentiert!«, konterte Leonardo, ohne den Blick von Gio’ zu lassen.
»Gio’ ist auf allen Gebieten sehr talentiert! Er kann sogar singen. Du solltest mal hören, wenn er das Schma Israel anstimmt!«
Leonardo lachte schallend. »Ein Jude? In San Marco, der Festung der Dominikaner? Du bist wirklich verrückt, Raffaello!« Dann wandte er sich mit einem anzüglichen Schmunzeln an Gio’: »Tut mir Leid, mein Junge. Aber dein Maestro will nicht, dass ich dir ein paar ›Kunstgriffe‹ beibringe …«
Ich zog Leonardo von Gio’ weg, dessen Gesicht die Farbe von rotem Mohn angenommen hatte. »Was meintest du vorhin mit der ›Grablegung des alten Glaubens‹?«, fragte ich ihn.
»Mit diesem Bild hast du alles zu Grabe getragen, an was Pietro Perugino, Luca Signorelli und Domenico Ghirlandaio geglaubt haben: die Perspektive, die Haltung, die Gefühle …«
»Nur wer die Regeln beherrscht, darf sie außer Acht lassen.«
»Und weil du gerade dabei bist, die geltenden Regeln zu brechen, stellst du auch gleich neue auf«, konterte er. »Kein Gottvater, keine Engel! Nicht ein Hauch von Sfumato! Deine Grablegung ist ein irdisches Geschehen. Dein Christus ist nicht der Mittelpunkt deines Bildes: sondern Seine Hand, die Maria Magdalena in ihrer Verzweiflung ergriffen hat. Zwei zärtlich liebende Hände. Wie tragisch! Dein Jesus ist ein Mensch – ein junger Mann, der mit Gewalt aus dem Leben gerissen wurde.« Leonardo stutzte. Dann deutete er auf das Bild. »Ist das nicht …?«, begann er.
»Er ist es«, antwortete ich.
»Cesare Borgias Schwert hat ihn nicht so verletzen können, wie dein Pinsel es vermag, Raffaello. Und Julius’ Bann hat ihn nicht so gedemütigt, wie du es tust«, lachte Leonardo mitleidlos.
Er ging einen Schritt weiter zum Gemälde der Katharina von Alexandria. »Deine Katharina ist ein ebenso eindrucksvolles Bild wie die Grablegung. Du malst die Heilige nicht als Anzubetende, sondern als Anbetende. Ihre Haltung ist sehr ungewöhnlich. Sie blickt hinauf in den Himmel. Sie hat den Mund geöffnet, als wollte sie uns erzählen, was sie dort oben sieht. Man kann erkennen, dass du sie am liebsten nackt gemalt hättest.« Er betrachtete das Bild mit demselben Gesichtsausdruck, mit dem die Katharina in den Himmel starrte. Dann lächelte er: »Die höchste Kunst ist es, den Betrachter des Kunstwerks das Geheimnis selbst entschlüsseln zu lassen.« Leonardo deutete auf den Hintergrund des Bildes. »Wohin führt dieser Weg?«
Vor drei Jahren hatte ich ihm diese Frage
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