Der Fürst der Maler
gestellt, als wir die Madonna Lisa betrachteten.
»In eine neue Zeit«, sagte ich.
Leonardo nickte. »Und was befindet sich hinter diesem Horizont?«
»Alles, nach dem es sich zu suchen lohnt. Neue und immer neue Horizonte für den, der nicht stehen bleibt …«
Leonardo trat an den Werktisch, auf dem ein Stapel Bücher lag. »Neue Horizonte? Wenn Fra Savonarola noch Prior von San Marco wäre, würdest du Florenz erleuchten, Raffaello: als brennender Ketzer! Und die Bücher, die du liest, würden als Brennmaterial für deinen Scheiterhaufen dienen.« Er nahm einen der Folianten in die Hand, um den Buchrücken zu betrachten. »Giovanni Pico della Mirandolas Conclusiones. Abu Bakr Ibn Tufails Buch über die Möglichkeiten des Menschen, Allah zu erkennen. Abu Ali Ibn Sinas Metaphysik. Diese Bücher gibt es weder in Florenz noch in Urbino! Hast du die Bibliothek von Alexandria wiederentdeckt?«
»Taddeo hat sie mir besorgt. Über seine Geschäftspartner in Cordobà und Alexandria.«
»Du spielst mit dem Feuer, Raffaello«, warnte er mich.
»Du etwa nicht? È vero – es ist wahr: Ich spiele mit dem Feuer, aber du, Leonardo, experimentierst mit Sprengstoff: Du sezierst Leichen, erforschst die Alchemie … Was machst du in Florenz? Wenn Soderini erfährt, dass du hier bist, wird er dich die Schlacht vollenden lassen.«
»Wird er nicht! König Ludwig hat mich zu seinem Hofmaler und Militäringenieur ernannt. Er erwartet mich dringend zurück in Mailand …«
Leonardo war wegen eines Erbschaftsstreits nach Florenz zurückgekehrt. Für die Zeit seines Aufenthaltes quartierte er sich in der Hoffnung auf einen schnellen Ausgang des Prozesses in einer Zelle in San Marco ein – aber nicht weil Gio’s Malkünste ihn faszinierten, sondern weil er sich in den Jungen verliebt hatte.
Obwohl der König von Frankreich und Niccolò Machiavelli bei der Justizbehörde interveniert hatten, um den Prozess zu einem schnellen Abschluss zu bringen, wartete Leonardo wochenlang. Er hatte viel Zeit nachzudenken. Den ganzen Mai hindurch sortierte er seine Aufzeichnungen, um Ordnung in seine Arbeitshefte zu bringen – und in sein Leben.
Seit er in den letzten Tagen des Jahres 1499 Mailand verlassen hatte, musste er demütigende Niederlagen hinnehmen: Die Zerstörung des Terrakotta-Modells für das Reiterdenkmal Francesco Sforzas durch die Franzosen. Der Zerfall des Abendmahl-Freskos in Santa Maria delle Grazie in Mailand. Das gescheiterte Projekt des Arno-Kanals, der Florenz zu einem internationalen Seehafen machen und Pisa im wahrsten Sinn des Wortes das Wasser des Arno abgraben sollte. Der grandiose Absturz des vierten Prototyps seiner Flugmaschine. Die verlorene Schlacht von Anghiari gegen die verlaufenden Farben. Und vor allem: die unvollendete Madonna Lisa – der endlose Kampf gegen sich selbst. Den er nicht gewinnen konnte. Oder nicht gewinnen wollte …
»Die Elemente haben sich gegen mich verschworen«, beschwerte er sich. »Feuer, Wasser, Luft und Erde. Nicht einmal die Farben tun, was ich will. Und die Menschen – diese undankbaren, heuchlerischen …«
»Nur weil dein Ornitottero aus dem Himmel gefallen ist, heißt das doch nicht, dass die Menschheit nicht eines Tages fliegen wird, Leonardo«, unterbrach ich ihn. »Du hast so viele Dinge erfunden: das Fahrrad, das Unterwasserboot, den Taucheranzug, den Fallschirm. Du hast uns allen erklärt, warum der Himmel blau ist und woher der Regenbogen kommt. Deine Arbeitshefte sind eine Encyclopaedia des menschlichen Wissens, umfangreicher als Plinius’ Naturalis Historia, präziser als Aristoteles’ Forschungen. Mit der Sezierung von Leichen hast du die Lehren von Galenus und Hippokrates widerlegt. Kein Fachgebiet der Wissenschaften, das du nicht erforscht hast. – Also tu dir selbst und uns Sterblichen den Gefallen, und veröffentliche deine Arbeitshefte.«
»Nein«, beharrte er stur.
»Warum nicht? Weil du damit endlich einmal etwas vollenden würdest?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Raffaello. Die ganze Welt ist unvollendet. Die Schöpfung war am siebten Tag noch nicht abgeschlossen. Gott hat weiter an der Welt gearbeitet – wie ein Künstler an seinem Werk. Er tut es noch. Nichts auf dieser Welt wird jemals vollendet werden.«
Obwohl Leonardo Erfahrungen als Baumeister hatte, beteiligte er sich nicht an dem Wettkampf der Architekten für die Marmorverkleidung der Domkuppel. Andrea Sansovino war aus Rom angereist, um ein Modell anzufertigen, Michelangelo schickte
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