Der Fürst der Maler
unerbittlichen Haltung ihm gegenüber verletzt haben, weil ich ihn glauben ließ, dass ich ihn für Lucas und Herzog Guidos Mörder hielt.
Das Gerücht, dass Lucrezia Borgias Sohn Ercole d’Este ein Kind von Francesco Gonzaga war, wurde nicht nur in Ferrara und Mantua, sondern auch in den Straßen Roms erzählt. Die beiden Schwager Alfonso d’Este und Francesco Gonzaga hassten sich mit derselben Leidenschaft, mit der sich die Herzogin von Ferrara und der Marchese von Mantua liebten. Doch Francesco Gonzaga war nach der Geburt nicht nach Ferrara gekommen, um seinen Sohn zu sehen. Von Rom aus kehrte er über Urbino nach Mantua zurück, ohne in Ferrara Halt zu machen. Durch ihren Freund, den Dichter Ercole Strozzi, ließ Lucrezia ihren Geliebten bitten. Strozzi schrieb dem Marchese glühende Briefe, die von Lucrezias Seelenzustand sprachen. Doch Gonzaga schwieg.
Am Morgen des 6. Juni 1508 fand man Ercole Strozzi ermordet in den Straßen von Ferrara. Zweiundzwanzig Dolchstiche hatten den Dichter getötet. Doch: Warum? Und: Wer war der Mörder? Die Nachforschungen wurden wenige Stunden nach Entdeckung des Mordes eingestellt. Ein Mantel des Schweigens lag wie frisch gefallener Schnee über Ferrara und deckte das Gerücht zu, dass Francesco Gonzaga in der Nacht des Mordes in den Straßen von Ferrara gesehen worden war …
Starb nicht auch Herzog Guido unter solch mysteriösen Umständen, weil er dem Marchese Gonzaga im Weg war? Hatte Francesco Recht, als er den Marchese als Mörder seines Onkels bezeichnet hatte? Als er vermutete, dass er Herzog von Urbino und Gonfaloniere der Kirche werden wollte?
Plötzlich sah ich seine Worte in Urbino in einem anderen Licht!
Francesco, meinen besten Freund, hatte ich beschuldigt, Guido ermordet zu haben!
Das heiße, brennende Gefühl der Scham war mir unerträglich. Wie sehr musste meine ablehnende Haltung, mein Unglauben an seine Unschuld ihn verletzt haben, wenn er nicht der Mörder war.
»Lass uns Frieden schließen«, hatte Francesco in Urbino gesagt. »Ich will keinen Krieg mit dir führen, Raffaello. Du bist mein Freund! Mein einziger Freund! Ich brauche dich.« Er brauchte mich, und ich hatte ihn zurückgestoßen. Ich hatte ihn durch mein unversöhnliches Verhalten gezwungen, mich nach Rom zu senden.
Nun war Francesco nach Urbino zurückgekehrt, und ich konnte ihm nicht gestehen, wie sehr ich mich geirrt hatte.
Im Juli, ein paar Tage nach dem Mord in Ferrara, vergrub ich mich in einem Berg von Skizzen für die Erkenntnis des Göttlichen, für die ich auf meine Entwürfe von San Severo zurückgreifen konnte. Doch die auszumalende Lünette der Stanza war sehr viel größer als die in San Severo. Und es sollte nicht nur ein Fresko gemalt werden, sondern vier.
Ich verzichtete auf die bei Masaccio und Domenico Ghirlandaio übliche Darstellungsform der Handlung in szenischen Streifen ebenso wie auf die von Sandro Botticelli, Luca Signorelli und Pietro Perugino gemalten chronologischen Szenen, in denen dieselben Personen mehrmals in einem Bild erschienen. Doch wie sollte ich das, was ich sagen wollte, darstellen, wenn ich sämtliche Konventionen der Malerei verwarf?
Ich fertigte Dutzende von Kompositionsskizzen und verwarf doch alle wieder. Dann begann ich ganz von vorne: bei der Decke der Stanza. Ich skizzierte Entwürfe für die runden Medaillons und die quadratischen Bildflächen, die Gian Antonio Sodoma noch nicht ausgefüllt hatte.
Ich musste lachen, als ich mich an meine Taufe in Baccios Werkstatt erinnerte. Baccio hatte mich im Namen des Schönen, Guten und Wahren getauft. Mit einem Eimer voller roter Farbe. Genau das wollte ich malen: mein Glaubensbekenntnis an die Schönheit, die Wahrheit und die Tugend.
Unzählige Blätter breitete ich vor mir auf dem Tisch aus und begann zu zeichnen. Feuer, Wasser, Luft und Erde, die vier Elemente, aus denen die Welt bestand. Den Elementen ordnete ich die Wahrheit der Offenbarung, die Wahrheit der Vernunft, die Schönheit und die Ethik zu. Immer schneller flog mein Silberstift über das Papier, als ich neben der Offenbarung die Theologie, neben der Vernunft die Philosophie, neben der Schönheit die Poesie und neben der Ethik die Gerechtigkeit skizzierte, die ich in die Medaillons der Decke malen wollte. Meine Gedanken hatten Feuer gefangen. Ich war auf dem richtigen Weg.
Für die quadratischen Bilder der Decke skizzierte ich die Säulen der Welt: den christlichen Glauben im Sündenfall Adams und Evas, die Naturwissenschaft in
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