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Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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sich neben mir auf den frei gewordenen Stuhl fallen. Er war noch außer Atem von dem Tanz mit Giulia Farnese. Er betrachtete mich durch sein Augenglas. »Was ist los mit dir, Raffaello? Du bist so … still. Nachdenklich. Melancholisch. Um dich herum wird getanzt, gelacht und geliebt, und du sitzt hier wie eine von Michelangelos Marmorstatuen.«
    Was sollte ich Giovanni antworten? Dass ich mich nie einsamer gefühlt habe als an diesem Abend? Dass ich das Gefühl hatte, mit der goldenen Uhr den Rest meines Lebens in der Hand zu halten? Er würde es nicht verstehen. Ich verstand es ja selbst nicht.
    Ich hatte den Götterberg Olympos erklommen. Ich stand ganz oben auf dem Gipfel. Geliebt. Bewundert. Angebetet. Ich hatte das erreicht, was ich mir immer erträumt hatte, wofür ich jahrelang hart gearbeitet hatte. Ich saß an einer festlich gedeckten Tafel in meinem eigenen Palazzo, war umgeben von einem Gefolge von Maestros, die mich wie eine Ikone verehrten, hatte mehr Freunde als ich zählen konnte. Ich hätte nun glücklich sein können. Ich hätte zur Ruhe kommen können.
    Nicht der ist glücklich, der satt ist. Sondern der, der hungrig ist und durstig. Nicht der ist glücklich, dessen Träume in Erfüllung gehen. Sondern der, der noch Träume hat.
    Welchen Traum hatte ich noch?
    Doch, da war noch einer. Ein einziger. Wunderschön, sinnlich, sinnhaft. Aber zerbrechlich. Der Traum vom Triumph der Liebe, der ewigen, unsterblichen Liebe …
    Doch Felice tanzte mit einem anderen. Ich hätte sie zum Tanz auffordern können, aber ich tat es nicht. Warum, wusste ich selbst nicht. Auch sie hatte mich den Abend über beobachtet, aber außer einer kurzen Begrüßung hatte sie mit mir kein Wort gewechselt.
    Nach dem Bankett, als alle Gäste verabschiedet waren, lag ich allein im Bett. Ich starrte an die Decke und dachte nicht an die vielen, die gekommen waren, um mich zu ehren, sondern an den einen, der nicht erschienen war.
    Ich erhob mich, zog mich an und stieg langsam die Treppe zum Bankettsaal hinunter. Eine Hand voll Diener brachte den Saal in Ordnung, räumte das Geschirr und die Silberplatten ab, um sie in die Küche zu tragen. Sie hielten überrascht in ihrer Arbeit inne, als sie mich sahen. Wortlos ging ich in die Küche, wo noch die Platten mit den verschiedenen Gängen standen, bevor sie in die Kühlkammern gebracht wurden.
    Ich ließ mir eine Servierschale geben, füllte Taubenpastete, gepfefferte Wachteleier und andere Köstlichkeiten hinein, packte zwei Teller und zwei Silbergabeln in eine Satteltasche und machte mich mit meiner Leibwache aus vier Schweizer Gardisten und einigen Fackelträgern auf den Weg durch das nächtliche Rom.
    Das Haus am Macello dei Corvi hinter dem Forum des Kaisers Trajan lag still und verlassen. Die Tür war verschlossen, und niemand öffnete auf mein Klopfen. Mit meiner Eskorte ritt ich zum Vatikan. Die Wachen der Schweizer Garde ließen mich durch. Ich ritt an der Baustelle von San Pietro vorbei, wo selbst um die dritte Nachtstunde im Schein der Fackeln noch gearbeitet wurde, und gelangte zur Sixtina. Ich sprang vom Pferd, bat meine Leibwache, auf mich zu warten, und betrat die Kapelle.
    Michelangelo arbeitete oben auf dem Gerüst im Schein von vier Fackeln, die er in Eimer mit gemahlenem Marmorstaub gesteckt hatte, aus dem der Gipsverputz für die Freskierung hergestellt wurde. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er nicht bemerkte, wie ich langsam die Treppe des Gerüstes hochstieg und die Satteltaschen auf den Werktisch legte.
    Den Propheten Joel hatte Michelangelo vor einer Woche fertig gestellt, nun malte er die Delphische Sibylle. Ich hockte mich auf einen umgedrehten Eimer und sah ihm bei der Arbeit zu. Den Kopf in den Nacken gelegt, den Rücken verbogen, malte er mit dem ausgestreckten Arm das Antlitz der Sibylle. Welche Qualen musste er ausstehen, und welche Schmerzen, tagelang, wochenlang, monatelang in dieser Haltung zu arbeiten!
    »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte ich ihn nach einer Weile.
    Er fuhr herum und ließ den Pinsel sinken. In der Dunkelheit versuchte er, mich zu erkennen. »Es ist Nacht«, sagte er. »Es ist dunkel draußen!« Er deutete auf die trotz der kühlen Herbstnacht weit geöffneten Fenster.
    Licht und Finsternis, Tag und Nacht: War das die einzige Zeiteinteilung, die Michelangelo noch kannte? In der Ecke des Gerüstes bemerkte ich den Strohsack mit der Leinendecke, auf dem er schlief, wenn es nachts zu spät war, um in sein Haus am

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