Der Fürst der Maler
in Theologie geben, Raffaello? Francesco hat Alidosi ermordet. Ich werde ihn dafür bestrafen!«
»Nach welchem Gesetz?«, fragte ich lauter als beabsichtigt.
»Nach meinem Gesetz«, schrie er mich an.
»Welches ist das, Heiliger Vater? ›Auge um Auge‹, das Recht der Menschen? Oder: ›Du sollst nicht töten‹, das Gesetz Gottes?«
Er schnappte nach Luft, griff nach seinem Stock und holte zum Schlag aus.
Ich wich seinem Blick nicht aus. Seinem Schlag auch nicht. Ich spannte die Muskeln an und ertrug den Schmerz, während er zum zweiten Mal ausholte.
Dann zögerte er, mit dem erhobenen Stock in der Hand: »Du wehrst dich nicht.«
»Nein.«
»Du duckst dich auch nicht.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Jesus sagte: ›Segnet die, die euch verfluchen. Betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halte auch die andere hin.‹ Buddha sagte: ›Erwidere nicht Zorn mit Zorn, Beschuldigung mit Beschuldigung, Schläge mit Schlägen.‹«
»Buddha?«, fragte er ungläubig. »Du wagst es, in meiner Gegenwart Buddha zu zitieren?«
»Ja, Heiliger Vater. Ich zitiere jede Wahrheit.«
Er ließ sich auf seinen Sessel zurücksinken. »Jede Wahrheit?«, wollte er wissen. »Wie viele gibt es denn?«
»So viele, wie es Menschen gibt, die an sie glauben. Jeder glaubt an seine eigene Wahrheit.«
»Ist das von Platon?«, fragte er.
»Nein, von mir.«
»Also gut, dann erzähle mir von der Wahrheit, an die du glaubst. Ich werde dir zuhören.«
Wort für Wort erzählte ich ihm, was Francesco mir gesagt hatte. Julius hörte mir nachdenklich zu, ohne mich zu unterbrechen.
»Ihr habt König Louis und Kaiser Maximilian gegen Euch. Und Alfonso d’Este von Ferrara. Das Bündnis mit Venedig steht auf wackligen Füßen. Die Liga von Cambrai ist zerbrochen. Francesco schlägt vor, dass Ihr mit dem König von Spanien verhandelt. Die Spanier fürchten, dass die Franzosen, wenn sie Rom erobert haben, nach Süden marschieren, um das spanische Königreich Neapel zu annektieren.«
»Die Geschichte wiederholt sich«, stöhnte Julius. »Papst Alexander VI . war in genau derselben Situation, als die Franzosen unter König Charles in Neapel einmarschierten.«
»Und was hat er getan?«
»Er ist geflohen. Erst in die Engelsburg, dann nach Orvieto.«
»Dann wird sich die Geschichte nicht wiederholen, Heiliger Vater. Denn Ihr werdet nicht fliehen«, sagte ich voller Zuversicht.
»Nein, ganz sicher nicht. Ich werde die Kirche von den Zinnen der Sixtina aus verteidigen und mit dem Schwert in der Hand siegen oder sterben. So wie Michelangelo mich in Bologna in Bronze gegossen hat. Rom wird nicht geplündert und die Kirche nicht geteilt – solange ich lebe! Das schwöre ich! Gott ist mein Zeuge.«
»Wenn Ihr Rom und den Vatikan verteidigen wollt, braucht Ihr einen Feldherrn, Heiliger Vater«, erinnerte ich ihn.
»Ja, das ist wahr, Raffaello. Die Kirche braucht einen Gonfaloniere. Aber ich kann keinen Mörder zum Bannerträger ernennen. Francesco bleibt in der Engelsburg, bis er seine Schuld bekennt.«
»Und dann? Wenn er bekannt hat? Was geschieht dann?«
»Dann wird er sich vor einem kirchlichen Tribunal von sechs Kardinälen unter Vorsitz des Vizekanzlers rechtfertigen.«
Ich stöhnte.
Giovanni de’ Medici als Francescos Richter und Henker! In Anbetracht der Tatsache, dass sein Bruder Giuliano seit Jahren Herzog der Toskana und vielleicht bei dieser Gelegenheit Herzog von Urbino werden wollte, stand das Urteil bei einer solch klaren Sachlage von vornherein fest: Giovanni würde keine Minute zögern, das Recht durchzusetzen und Francesco zum Tode zu verurteilen.
»Warum Giovanni de’ Medici?«, fragte ich vorsichtig. Vielleicht konnte ich Julius noch umstimmen!
»Er ist mein Stellvertreter. Ich werde nicht selbst über meinen Neffen richten.«
»Könnte nicht jemand anderer …?«
»Wer, Raffaello? Ippolito d’Este und acht weitere Kardinäle sitzen wie hungrige Adler in ihrem Nest in Pisa und warten darauf, mich abzusetzen. Der Rest hockt wie ein Gelege von Geiern in Rom und wartet auf das nächste Konklave, um sich zu nehmen, was in Pisa vom Tisch fällt. Sie würden sogar in die Sixtina gehen und Michelangelo helfen, sein Gerüst abzubauen, damit diese Komödie schnell über die Bühne geht. Wem kann ich vertrauen? Rafaele Riario? Alessandro Farnese? Nein, mein Sohn, Giovanni de’ Medici ist der Einzige, der mir noch in die Augen sehen kann, wenn er mich anlügt.«
Baldassare Castiglione
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