Der Fürst der Maler
die furchtbaren Vermutungen aus dem Dunkel des Vergessens: War mein Freund der Mörder meines Sohnes?
Ich besann mich. »Wie hat Julius auf die Nachricht von Alidosis Ermordung reagiert?«, fragte ich, als Giuliano und ich einer Schar Nachtschwärmer auswichen, die maskiert und betrunken von einem Bankett zum anderen unterwegs waren.
»Er hat geweint wie ein kleiner Junge. Das hat mir Monsignor Paris de Grassis im Vertrauen erzählt. Doch der Schmerz über den Tod seines Freundes Alidosi konnte seinen Zorn auf seinen Neffen nicht besiegen. Er ließ Francesco sofort in Ketten legen. Dann hat er ihn als Herzog von Urbino und Präfekt von Rom abgesetzt, seine Condotta als Gonfaloniere der Kirche aufgekündigt und ihn exkommuniziert!«
»O mein Gott!«, entfuhr es mir.
»Das war vor fünf Tagen in Ravenna«, fuhr Giuliano fort. »Wir sind sofort nach Rom aufgebrochen. Julius ist geritten wie der Teufel. Fast schien es mir, als wären wir bereits auf der Flucht vor den Franzosen.«
»Weiß Julius, dass Francesco mich sprechen will?«
»Nein, natürlich nicht. Wenn er es wüsste, würde er den nächsten Tobsuchtsanfall bekommen. Es geht dem Papst nicht gut. Der lange Ritt von Ravenna nach Rom hat ihn erschöpft. Der Tod Alidosis war ein schwerer Schlag für ihn – Paris de Grassis flüsterte mir zu, dass Alidosi ihm auf den Thron Petri nachfolgen sollte. Dessen Ermordung durch seinen Neffen hat Julius beinahe das Herz gebrochen. Er ist achtundsechzig. Als ich ihn in Ravenna sah, dachte ich schon, dass wir noch vor dem Konzil in Pisa im September einen neuen Papst wählen würden. Aber im Augenblick sieht es so aus, als würde Urbino schneller einen neuen Herzog bekommen als die Kirche einen neuen Papst.«
»Will Julius seinen Neffen wirklich hinrichten lassen?«, fragte ich entsetzt.
»Du weißt, dass in Rom alles möglich ist«, sagte Giuliano vage.
Für einen Augenblick fragte ich mich, auf welcher Seite Giuliano eigentlich stand. Auf der Seite der della Rovere – und wenn ja, auf welcher: der des Papstes oder der des Herzogs? Oder auf der Seite der Medici? Und welches war seine Figur in diesem Spiel um die Macht in Italien?
»Wenn Julius den Herzog hinrichten lässt: Wer sollte Francesco nachfolgen? Er hat keine legitimen Kinder. Der kleine Luca ist tot. Sein Sohn mit seiner Geliebten Clarissa Buffa starb kurz nach der Geburt. Herzogin Eleonora ist eine Gonzaga. Urbino würde an Mantua fallen! Das war doch gerade das, was Francesco immer verhindern wollte. Und ebenso Julius, als er einen della Rovere zum Herzog bestimmte«, sagte ich.
»Viel schlimmer, Raffaello! Signor Taddei ist mit Francescos Schwester Fioretta verheiratet. Er bekleidet zwar keine offizielle Stellung bei Hofe, hat aber durch seine häufigen Aufenthalte in Urbino einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Herzog. Und er finanziert Francesco della Roveres kostspielige Launen. Seine Geldquellen scheinen unerschöpflich zu sein. Er unterhält freundschaftliche Beziehungen zu Kaiser Maximilian in Innsbruck und Sultan Bajazet in Constantinopolis. Taddeo Taddei ist einer der mächtigsten Männer in Italien. Hast du schon einmal über die Möglichkeit nachgedacht, dass er Herzog von Urbino werden könnte? Er ist immerhin fast ein della Rovere.«
Ich schwieg. Herzog Taddeo? Diese Idee war zu absurd, zu erschreckend, um mehr als einen Gedanken daran zu verschwenden. Und doch: Nannte man ihn nicht seit Jahren Il Principe?
Giuliano und ich hatten die von unzähligen Fackeln hell erleuchtete Engelsburg erreicht und sprangen von den Pferden.
Die Wachen der Schweizer Garde am Tor hielten uns nicht lange auf. Giuliano de’ Medici war ein Offizier des Papstes und der Bruder des Vizekanzlers der Kirche, Kardinal de’ Medici, und ich war Monsignore und der Vertraute des Papstes. Sie kannten mich von meinen täglichen Wegen zwischen der Via Giulia an der Engelsburg vorbei, die Via Alessandrina entlang zum Vatikan. Und weil ich selbst eine Leibwache aus Schweizer Gardisten hatte, die mir im Vatikan alle Tore öffnete – manchmal auch die verschlossenen und die geheimen Türen. Die Wachen hatten keinen ausdrücklichen Befehl, mich nicht in die Engelsburg zu lassen, also ließen sie mich und Giuliano de’ Medici ein.
Wir durchquerten den ringförmigen Hof, der das antike Grabmal des Kaisers Hadrianus von den zinnenbewehrten Festungsmauern trennte, und betraten die Burg durch das Bronzeportal. Im Inneren des runden Grabmals war es finster. Nur
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