Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
Vom Netzwerk:
bevor er Gio’ und mich in unsere Kerker zurückbringen ließ? Er war so blass geworden, doch dann hatte er gelächelt. Julius lag im Sterben. »… nur noch ein paar Stunden, nicht mehr«, das waren die Worte des Scriptors gewesen. Hatte Alessandro es eilig, an Julius’ Totenbett zu eilen? Wenn Julius starb, dann war mein Leben keinen Scudo mehr wert. Giovanni de’ Medici war noch immer in Florenz. Er konnte mir nicht helfen. Würde er es überhaupt rechtzeitig zum bevorstehenden Konklave schaffen? Die Straßen zwischen Florenz und Rom waren tief verschneit und im Winter beinahe unpassierbar …
    Ich ließ mich auf das Bett fallen und wickelte mich in meinen weiten Mantel ein. Die Kälte in der Zelle war unerträglich.
    Ich dachte an meinen bevorstehenden Tod.
    Wenn dies der letzte Tag meines Lebens wäre: Was würde ich tun? Ich würde mich bei allen Menschen entschuldigen, denen ich wissentlich oder unwissentlich Leid zugefügt habe. Ich würde allen Menschen vergeben, die mir Leid zugefügt, die mir unrecht getan haben. Ich würde mich bedanken bei denen, die mir etwas geschenkt haben: Freude, Lust und Erkenntnis. Die mir etwas von sich selbst geschenkt haben. Ich würde zurückblicken, nicht im Zorn, sondern ganz ruhig. Und ich würde nichts tun, denn was sollte ich noch beginnen, da doch ohnehin bald alles enden würde. Da doch schon längst alles getan war. Carpe diem! Nutze den Tag! All das wollte ich tun, aber ich konnte es nicht.
    Die Einsamkeit war schwerer zu ertragen als die Kälte.
    Das Donnern eines Kanonenschusses ließ mich zusammenzucken. Eine Kanone der Engelsburg war abgefeuert worden. Es war nur ein einziger Schuss, und er klang unheilvoll wie der Donner des Jüngsten Gerichts …
    Papst Julius war tot!

    Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage vergingen, bis sie mich wieder holten. Wenn ein Tag zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang eine Ewigkeit dauert, wie lange dauern dann vier oder fünf oder sechs Ewigkeiten? Und die finsteren, stillen Zeitlosigkeiten dazwischen? Seit meine Uhr stehen geblieben war, hatte ich das Gefühl für die Zeit verloren.
    Wie schnell die Zeit früher vergangen war: Die Tage waren prallvoll ausgefüllt, und alle Facetten meiner Kreativität waren gefordert gewesen. Wie ein Sturm war die Zeit an mir vorübergebraust. Und jetzt? Windstille. Die Zeit zerdehnte sich bis zur Unendlichkeit. Tauchte ich deshalb so tief in jede Minute meines Lebens ein, um sie bis zur Neige auszukosten, um ihren Sinn einzuatmen, weil nur noch so wenige davon übrig waren?
    Und dann war plötzlich auch diese unverbrauchte Zeit zu Ende – sie holten mich!
    Auf dem Tisch des Tribunals lagen meine Bücher. Giovanni Pico della Mirandolas Conclusiones, Marsilio Ficinos Theologia Platonica und all die anderen unangenehmen, unverstandenen und deshalb unerwünschten Werke.
    Sie wollten, dass ich ein Wort sage: › Revoco! Ich widerrufe!‹ Sechs Lettern, drei Silben, aber unmöglich auszusprechen, nicht einmal geflüstert. Oder gedacht. Nein, ich würde nicht widerrufen.
    Niemals!
    Sie drohten, mich zu foltern, aber ich sagte nichts. Kein Wort. Ich sah nur auf die Folianten auf dem Tisch. Wie waren die Inquisitoren an die Bücher gekommen? Was war mit Eleonora? Hatten sie auch sie in die Engelsburg gebracht?
    Ich hatte furchtbare Angst.
    Als ich nicht widerrief, drohten die Inquisitoren, die Conclusiones vor meinen Augen zu verbrennen. Ich sah ihre Augen leuchten, und ich sagte: ›Nein!‹ Aber ich sagte nicht: ›Revoco!‹ Denn ich lasse mir das Denken nicht verbieten.
    Ich sah die Ratlosigkeit in den Gesichtern der Monsignori. Sie wollten keinen Fehler machen. Und schon gar kein Urteil über mich sprechen. Denn Kardinal Alessandro Farnese, mein Richter und Henker, befand sich im Konklave und versuchte die Stufen zum Papstthron zu erklimmen.
    Ich wurde in die Zeitlosigkeit meiner Zelle zurückgebracht.

    Nur ein geständiger Ketzer konnte verurteilt werden. Ich hatte das so schwierig auszusprechende kleine Wort nicht gesagt. Ich hatte meinen Glauben nicht widerrufen. Aber die Inquisition hatte überzeugende und im Sinn des Wortes schlagkräftige Argumente, einen Angeklagten zum Heil seiner unsterblichen Seele zu überreden: die Folter. Nach den Vorschriften der Inquisition durfte die Folter nur ein Mal angewandt werden. Aber sie konnte beliebig oft unterbrochen und fortgesetzt werden, wenn der Delinquent zu schwach war, das unaussprechliche Wort zu schreien oder zu flüstern. Ad infinitum –

Weitere Kostenlose Bücher