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Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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aus blauem Kristall und silberne Messer und Gabeln wurden aufgedeckt und verwandelten Baccios Bottega in den Speisesaal eines Palazzo. Wir aßen fürstlich: es gab gebratenen Kapaun, Wildschweinpastete, geräucherten Aal und Wein aus der Toskana.
    Michelangelo spießte mit seinem Dolch ein Stück des Kapauns auf, um es schwungvoll auf seinem Teller zu platzieren. »Materia et Forma« , sagte er auf Lateinisch und ließ mich nicht aus den Augen. »Materie ist potenzielles Sein, sagt Aristoteles.«
    War das die Eröffnung des Tischgespräches oder eine neue Herausforderung an mich?
    »Potenzielles Sein?«, fragte Baccio neben mir, als ich schweigend weiteraß. »Aber der Kapaun existiert doch.«
    »È vero!« Michelangelo erhob sich, verschwand in der Dunkelheit außerhalb des Kerzenscheins und wuchtete schließlich einen ellenhohen Block auf den Werktisch, der unter dem Gewicht des Marmors beinahe zerbrach. Die Teller und Gläser klapperten. » Ecco! Sieh dir diesen Block an! Dieser Stein existiert. Es lässt sich nicht aus jeder Windrichtung über ihn diskutieren wie über Philosophie und Politik. Dieser Stein bleibt ein Stein, für einen Stoiker ebenso wie für einen Republikaner. Aber die Form, die du ihm geben willst, existiert noch nicht.« Michelangelo sah mich unverwandt an. Als sei ich ein Marmorblock, den er bearbeiten wollte. Er schien zu überlegen, welche Form er mir geben wollte.
    »Solange du das Punktiereisen nicht in die Hand genommen hast«, begann ich, »kannst du aus diesem Marmor Platten für die Fassade von Santa Maria del Fiore machen, die Skulptur eines nackten Mädchens …«
    »Kein Interesse!«, lachte Baccio anzüglich.
    »… einen Esel …«, fuhr ich unbeirrt fort.
    »Michelangelo ist doch nicht Gian Antonio Sodoma«, unterbrach mich Baccio, »der seine Haustiere vergewaltigt!«
    »… oder einen siegreichen Feldherrn zu Pferde«, fuhr ich fort.
    » Non è vero – das stimmt nicht!«, widersprach Michelangelo hitzig. »Im Marmor steckt immer nur eine Form. Der David war die ganze Zeit da. Ich habe ihn vom überflüssigen Marmor befreit, als ich ihn herausgemeißelt habe. Aber er war die ganze Zeit da!«
    »Denkbar, dass das bei dir so ist, Buonarroti!«, gestand ich ihm zu. »Das ist die Metaphysik des Michelangelo, nicht die des Aristoteles. Mit uns anderen Sterblichen spricht der Marmor nicht. Er sagt uns nicht, was sich in seinem Inneren verbirgt.«
    Baccio begann herzlich zu lachen. Andrea Sansovino und Giuliano da Sangallo fielen ein.
    Michelangelo ballte seine Hände zu Fäusten und schlug auf den Tisch, dass Teller und Gläser hüpften. »Die Form bestimmt die Materie, sagt Aristoteles. Hast du seine Werke gelesen, Santi?«
    Ich ignorierte seine Frage. »Der Ton macht die Musik, Buonarroti!«, sagte ich kühl. »Und die Haltung bestimmt den Menschen!«
    Michelangelo ließ sich auf seinen Schemel fallen und sah mich irritiert an. »Die Haltung?«
    Sandro Botticelli versuchte die Situation zu retten. »In Platons Apología haben wir ein wundervolles Beispiel für die Haltung des Sokrates …« Sandro blickte irritiert in die Runde, und als ihm niemand zuhörte, begann er erneut: »Ich erinnere auch an den Stoiker Lucius Annaeus Seneca, der …«
    »Ich muss gestehen, dass ich kein einziges Buch von Seneca gelesen habe«, gab Michelangelo zu. »Dafür kenne ich Platon und Aristoteles. Aber vielleicht kennt unser Gast aus Urbino die Werke der Stoiker? Obwohl er aus der Provinz kommt? Du kannst doch lesen, Santi?«
    »Ich kann lesen«, erwiderte ich ruhig. »Ich kenne sämtliche Bücher der Bibliothek des Palazzo Ducale von Urbino, der als einer der gebildetsten Höfe von ganz Italien gilt. Nach Florenz natürlich. Zuletzt habe ich die lateinische Übersetzung des Werkes des Chinesen Shen Gua über die Malerei gelesen. Besonders fasziniert war ich von der Stelle, in der Shen Gua die Unabhängigkeit der Darstellung von der Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit fordert. Das Ziel der Darstellung liege nicht in der Reproduktion des Sichtbaren, sondern in der Erfassung des Unsichtbaren: der geistigen Haltung und der Absicht des Malers, des Schriftstellers und des Schöpfergottes. Er zitiert einen chinesischen Weisen namens Lao Tse: Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes, das Unsichtbare macht seinen Wert aus. Ich finde, die Ideen des Shen Gua sind richtungweisend für das Renascimento. Wie denkst du als gebildeter Florentiner darüber, Buonarroti?«
    Michelangelo verriet mir nicht, wie er

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