Der Fürst der Maler
seinen Auftraggebern zu gefallen sucht.«
»Deshalb bin ich zu dir gekommen, Maestro Leonardo. Du bist anders. Du hast nur wenige Bilder gemalt, aber alle sind berühmt geworden, obwohl sie unvollendet geblieben sind.«
Ich deutete auf das riesige Tafelbild der Anbetung der Könige, das an der Wand lehnte. Leonardo hatte seine Entwürfe auf die Holztafel übertragen, die Schattenflächen definiert und den Hintergrund skizziert, ohne jedoch in den letzten Jahren einen einzigen Pinselstrich Farbe aufgetragen zu haben. Selbst in diesem unvollendeten Zustand war seine Anbetung eines der außergewöhnlichsten Bilder unseres Jahrhunderts, das – wie man sich in Künstlerkreisen zuflüsterte – Filippino Lippi, Sandro Botticelli und Domenico Ghirlandaio beeinflusst hatte. Selbst Michelangelo soll mit offenem Mund davor stehen geblieben sein.
Dass Leonardo nur so wenige Bilder vollendete, lag an seiner aufwändigen Maltechnik, bei der er jeweils nach einer der zahlreichen hauchzarten Farbschichten die mehrtägige Trockenzeit abwartete. Außerdem weigerte er sich, sich selbst zu kopieren, und griff erst dann zum Pinsel, wenn er das Thema mithilfe von Skizzen und Notizen bis ins Letzte durchdacht hatte. Er war der Meinung, dass ein Gedanke mit wenigen Pinselstrichen besser ausgedrückt werden konnte, als es alle Farben der Welt könnten.
»Und was willst du nun bei mir, Raffaello?«, fragte Leonardo.
»Ich will lernen! Ich will das zu Ende bringen, was du begonnen hast«, sagte ich entschlossen.
Leonardo verzog die Lippen angesichts meines Ehrgeizes. »Komm mit! Ich will dir etwas zeigen, mein Junge!«
Ich folgte ihm zu einer Staffelei in der Nähe eines der Fenster. Schwungvoll zog Leonardo das Leintuch von dem Tafelbild einer jungen Frau.
Mir stockte der Atem. »Wer … wer ist das?«
»Madonna Lisa Gioconda.«
»Dieses Lächeln …«, begann ich.
Leonardo schien enttäuscht über meine Reaktion. »Das sagen alle.« Er wollte schon das Tuch zurück über das Bild hängen. »Sag mir etwas anderes!«
»… ist nicht ihr Lächeln«, fuhr ich unbeirrt fort.
»Wie?« Leonardo zögerte, das Leintuch in der Hand. Aufmerksam betrachtete er mich von oben bis unten.
»Es ist nicht ihr Lächeln, nicht das Lächeln der Madonna Lisa, sondern deines, Leonardo.« Ich trat ganz nah an das Bild. »Es sind auch deine Augen und deine Nase. Sie ist du als junger Mann, du bist sie als Frau. Das Bild ist wie ein Blick in einen Spiegel.« Mit der Hand strich ich sanft über die glatten Farblasuren. »Wie alt bist du auf diesem Gemälde?«
»Einundzwanzig, so wie du heute, Raffaello.« War es der Neid auf meine Jugend, der in seinen unendlich tiefen Augen schimmerte? Oder die Betroffenheit, dass ich sein Geheimnis entdeckt hatte?
»Du warst atemberaubend schön«, sagte ich zum Bild gewandt.
»Wer hat dich das Sehen gelehrt, Raffaello? Du hast einen scharfen Blick und einen noch schärferen Verstand. Aber dein Urteil kann gleichzeitig beschämen und demütigen«, seufzte der Maestro.
»Du bist auch heute noch schön, Leonardo! Maler und Bild sind sich immer wesensgleich, wie der Betrachter und seine Reflexion in einem Spiegel. Das hast du doch selbst in deinem Trattato della Pittura geschrieben: ›Wenn ein Maler grobe Züge hat, wird er sie in seinen Werken auch so malen. In gleicher Weise wird alles, was er an Gutem und Schlechtem an sich hat, bei seinen Figuren durchscheinen.‹ Jeder Maler neigt dazu, Gesichter zu malen, die dem seinen ähneln. Wie er Landschaften malt, die seinem Seelenzustand entsprechen.«
»Ich konnte sie … mich nicht vollenden …«, gestand er.
»Deine Landschaft ertrinkt im Sfumato .« Ich trat näher an das Bild und deutete auf die längst getrocknete Farbe des ockerfarbenen Hintergrundes, auf den Leonardo einen dünnen, fast transparenten Farbschleier aufgetragen hatte, sodass die Landschaft leicht dunstig wirkte. »Wohin führt dieser Weg?«
»Nirgendwohin …«, murmelte er möglichst undeutlich.
»Und was befindet sich hinter diesem fernen Horizont?«
»Nichts …«
»Und wer ist der Beobachter hinter dem Betrachter, dem die Madonna Lisa in die Augen sieht? Sie sieht den Betrachter nicht direkt an.«
»Sie sieht niemanden an.« Er wandte sich zu mir um. »Ich kann dich nichts lehren, Raffaello! Du stellst zu viele Fragen, auf die ich keine Antworten habe.«
Leonardos alchemistischer Athanor flackerte. Als hätte er die Antworten, nach denen Leonardo suchte …
»Dann stell du die
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