Der Fürst der Maler
Buch zugeneigt, ganz versunken in seinen Inhalt. Die Hand, die das Buch hielt. Die im leisen Wind flatternden Seiten. Die pickenden, flatternden Tauben zu ihren Füßen.
Ich sah erst auf, als ein Schatten über meine Skizze fiel.
»Was soll das werden? Eine Madonna? Eine Heilige?« Der Mann, der sich über meine Skizze beugte, um sie näher zu betrachten, war wohl fünfzig Jahre alt, kleidete sich jedoch wie ein junger Mann in hautenge Seidenstrümpfe und ein viel zu kurzes französisches Doublet mit weit gebauschten Ärmeln. Ein langer, lockiger Bart reichte ihm bis zur Brust, umwallt von einer Kaskade silbergrauer Haare, die dem Hermes Trismegistos oder dem Propheten Jesaja alle Ehre gemacht hätten. Ihn hätte ich zeichnen sollen!
Er setzte sich neben mich auf die Steinbank und nahm mir Papier und Kohlestift aus der Hand. Mit ein paar einfachen Strichen korrigierte er den Faltenwurf des Ärmels und die perspektivische Verkürzung der rechten Hand mit dem Buch. Dann gab er mir das Blatt zurück. »Du bist noch nicht lange in Florenz«, mutmaßte er.
Er war nicht nur eine imposante Erscheinung in seiner provozierend engen Kleidung und seiner ungewöhnlich auffälligen Haartracht, die mich an einen weisen Alchemisten erinnerte. Er hatte eine unglaubliche Präsenz. Er war mehr als nur anwesend. Er war da. Unübersehbar. Er schien gründlich über alles nachgedacht zu haben. Über sich. Und seine Wirkung auf die Menschen, die ihn ungläubig anstarrten. Und er schien die Antworten auf alle Fragen zu kennen …
»Da du bereits meine Antwort auf deine nicht gestellte Frage zu kennen scheinst, sag mir: Woher glaubst du das zu wissen?«, fragte ich frech.
Er lachte und warf die silbernen Locken mit geübtem Schwung in den Nacken. Er war sich seiner Wirkung auf sein Gegenüber sehr wohl bewusst. »Ich habe dich beobachtet. Wie du Brunelleschis Kuppel angestarrt hast. Und Giottos Campanile. Und den Himmel über Florenz. Und wahrscheinlich sogar die Pflastersteine unter deinen Füßen. Du hast alles angestarrt, was es in Florenz anzustarren gibt. Ich will dir ein Geheimnis verraten …«
»Ein Geheimnis?«
»Die Pflastersteine sind weder von Donatello noch von Michelangelo.«
»Das hatte ich auch nicht angenommen«, antwortete ich.
»Weshalb bist du in Florenz?«
»Ich suche eine Stellung. In einer Bottega.«
»Wie heißt du?«
»Raffaello.«
»In Florenz gibt es ein Dutzend Maler dieses Namens«, sagte er, während er sich erhob. »Komm morgen Früh in meine Werkstatt im Konvent von Santa Maria Novella. A domani – bis morgen!«
Verblüfft sah ich ihm nach, wie er eine Schar silbergrauer Tauben auf der Piazza aufscheuchte. Mit wie Schwingen abgespreizten Armen beobachtete er, wie die Tauben ihre Flügel ausbreiteten und vor ihm in den Himmel hinauf flohen. Für einen Augenblick dachte ich, er wollte ihnen folgen …
»Nach wem soll ich fragen?«, rief ich ihm nach.
Er drehte sich zu mir um. »Nach Leonardo.«
»In Florenz gibt es bestimmt ein Dutzend Maler deines Namens!«
Er blieb irritiert stehen. »Aber nur einen Leonardo da Vinci!«
Baccios Werkstatt war der umgebaute Laden eines Schmiedes. Noch immer hing das bunt bemalte Gildenschild des Handwerkers über dem Eingang. Wie zuvor der Laden, war die Bottega offen zur Straße, auf der spielende Kinder herumliefen. An diesem Abend war die Tenda, das wetterfeste Vordach aus Segeltuch, heruntergeklappt, um das Innere der Werkstatt vor der kühlen Septembernacht zu schützen.
Baccio d’Angelo empfing mich am Eingang seiner Bottega.
Sein Verhalten mir gegenüber hatte sich gedreht wie das Wetter im April: Aus einem eisigen Nordwind war eine warme südliche Brise geworden.
»Und hier ist der Mittelpunkt der bewohnten Welt«, verriet er mir, als er mich in die Werkstatt führte, die von einem guten Dutzend Kerzen und einem prasselnden Feuer in der Esse der Schmiede erleuchtet war.
An den grob verputzten Wänden hingen Werkzeuge, Hämmer und Schlegel in verschiedenen Größen, Bossierhämmer, Winkel, Meißel, Punktiereisen, Zahneisen und Schlageisen, daneben vorbereitende Skizzen für Skulpturen, Pläne und Modelle für Palazzi und Kirchen. In den Ecken des großen Raumes gruppierten sich Marmorblöcke jeder Größe und Form, die meisten aus dem schneeweißen Marmor aus Carrara.
Die Mitte des Raumes beherrschte eine Werkbank aus schwerem Eichenholz, die über die zwei Hälften eines zerbrochenen Marmorblocks gelegt worden war. Baccios Freunde hatten auf
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