Der Fürst der Maler
…
Ich wich keine Handbreit zurück, als Michelangelo auf mich losging. » Deine Sixtina, Michelangelo? Leg dich in dieser Frage besser nicht mit Agostino Chigi an«, riet ich ihm. »Er behauptet, sie gehöre ihm.«
»Es ist meine Sixtina, weil ich sie freskiert habe«, brüllte er.
»Ach, und ich dachte, Botticelli, Perugino, Signorelli, Rosselli, Pinturicchio und dein alter Maestro Ghirlandaio hätten die Wände freskiert«, antwortete ich frech.
Michelangelo ignorierte meine Bemerkung in seinem Zorn: »Du, der du in deinem Größenwahn sogar Donato Bramante übertreffen willst, indem du deine Kathedrale doppelt so groß baust wie er, willst dich nun mit mir anlegen? Du … du Synagogenfürst!«
»Nein, Michelangelo«, sagte ich ruhig. »Dein Auferstandener Christus war die Antwort auf meinen Jehoschua, den ich in Florenz mit einem ›Es ist vollbracht‹ auf den Lippen in Marmor verewigt habe. Du wolltest mir damit beweisen, dass nichts vollbracht war. Meine Entwürfe für die Wandteppiche der Sixtina sind lediglich die Antwort auf die Frage, die du vor zwei Jahren unbeantwortet gelassen hast, als du deine Fresken für vollendet erklärt hast.«
»Welche Frage?«, fauchte er.
»Wen von uns die Götter mehr lieben. Den ersten Menschen an der Decke oder seinen Schöpfer.«
»Was?« , brüllte er unbeherrscht und ging auf mich los. Wie vor einigen Tagen, als wir uns in der Via Leonina begegnet waren. Lucifer war bei ihm gewesen, als Michelangelo und ich aufeinander prallten wie Blitz und Donner. Er war der zündende Funke gewesen, als Michelangelo mich coram publico angebrüllt hatte: » Ecce homo! Seht, er ist nur ein Mensch! Und ich, Michelangelo, habe ihn erschaffen. Er ist kein Gott, und er ist nicht unsterblich. Ich habe ihn erschaffen, und ich kann ihn wieder vernichten.«
Michelangelo ging mit geballten Fäusten auf mich los, als wollte er, wie vor ein paar Tagen, auf mich einschlagen wie auf eine seiner Marmorstatuen. Welche Ecken wollte er noch abschlagen, welche Kanten glätten?
Ich trat einen Schritt zurück und fragte: »Oder anders formuliert: Wer misst sich mit wem?«
Andrea Sansovino trat energisch zwischen uns und zerrte uns auseinander, als wir aufeinander losgehen wollten. »Wir messen uns alle miteinander.« Andrea deutete in die Runde der im Vorzimmer des päpstlichen Audienzsaales wartenden Architekten: Giuliano und sein jüngerer Bruder Antonio da Sangallo, der aus Florenz gekommen war, standen am Fenster: Giuliano erläuterte seinem Bruder den Baufortschritt von San Pietro. Nino stand bei seinen beiden Onkeln. Baldassare Peruzzi und Donatos Lieblingsschüler Bramantino standen in der Nähe der Tür des Audienzsaales und unterhielten sich über die Baupläne des Doms von Siena. Baccio d’Angelo, der am Vortag mit Antonio da Sangallo aus Florenz gekommen war, stand allein und ein wenig verloren mitten im Raum.
Michelangelo ließ mich stehen und wandte sich an Baccio: »Weißt du, warum Papst Leo uns gerufen hat?«
»Ja«, gestand Baccio. »Seine Heiligkeit plant einen Wettbewerb der besten Architekten Italiens.«
Michelangelo warf mir einen feindseligen Blick zu. »Einen Wettbewerb? Wozu sollen wir unsere kostbare Zeit mit Bauplänen, Grundrissen und statischen Berechnungen vertun? Der Sieger steht doch von vornherein fest«, fauchte er in meine Richtung.
In diesem Augenblick betrat Leonardo das Vorzimmer. Michelangelo stöhnte und wandte sich ab, als Leonardo auf ihn zuging, um ihn zu begrüßen. Dann ging Leonardo zu Giuliano, Antonio und Nino da Sangallo, zu Andrea Sansovino, Baccio d’Angelo, Baldassare Peruzzi und den anderen Anwesenden, um schließlich mich zu umarmen.
»Der Sieger steht schon fest?«, fragte Leonardo amüsiert mit einem gehässigen Seitenblick. »Solche architektonischen Wettbewerbe genieße ich besonders. Am liebsten bleibe ich bis zum Ende, um festzustellen, dass ich der Sieger bin.«
Bramantino, der gegen Leonardo bereits an einer Ausschreibung für die Kuppel des Mailänder Doms teilgenommen hatte, lachte herzlich. Ihn konnte die Anwesenheit von Leonardo, Michelangelo und mir nicht aus der Ruhe bringen. Bramantino, der von 1508 bis 1512 seinen Maestro Donato Bramante bei der Bauleitung von San Pietro unterstützt hatte, bis Giuliano da Sangallo und ich die Stellvertretung übernahmen, war vor zwei Jahren nach Mailand zurückgekehrt, wo er eine große Bottega unterhielt. Mein neuer Mitarbeiter Gaudenzio Ferrari war einer seiner Schüler
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