Der Fürst der Maler
Fragen, und ich gebe dir die Antworten!«, schlug ich vor.
Er zögerte. »Also gut! Wohin führt dieser Weg?«, fragte er.
»Es ist der Weg in deine eigene Vergangenheit. Er führt nirgendwohin.«
Leonardo nickte langsam. »Und was befindet sich hinter diesem letzten Horizont?«
»Nichts, nach dem es sich zu suchen lohnen würde. Weil du Gottes Existenz verleugnest.«
Leonardo sah mich bestürzt an.
Wortlos deutete ich auf die Skizzen der sezierten Leichen und auf den flackernden Athanor.
»Und wen sieht sie … er an?« Er meinte sich selbst!
Was erkannte Leonardo, wenn er in das geheimnisvolle Feuer der Alchemisten starrte? Wen sah er, wenn er in den Spiegel blickte?
»Sich selbst. Im Spiegel. Es ist ein tiefer, düsterer Spiegel. Du versuchst darin, dich selbst zu erkennen. Paulus schrieb an die Korinther: ›Wir sehen durch einen Spiegel ein dunkles Bild, von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt worden bin‹.«
»Der Spiegel im Spiegel! Du hast wirklich eine Antwort auf jede Frage, Raffaello. Male du das Bild zu Ende, wenn du glaubst, dass du besser malst als ich!« In seiner Stimme schwang weder ein herausfordernder noch ein entmutigter Ton. Leonardo reichte mir einen Pinsel.
»Das kann ich nicht! Du malst mit Farbtönen, mit Schattierungen. Du malst die dunkle, noch nicht erwachte Welt, die dich im Schein deines Alchemistenfeuers umgibt. Ich male mit Farben, mit Licht. Ich male meine Träume, meine Visionen. Ich male wie ein Blinder, der das Sehen gelernt hat: eine Welt von Farben und Formen, von Bedeutungen und Geheimnissen. Du musst dich selbst vollenden, Leonardo.«
»Dann zeig mir, wie man mit Licht malt, Maestro Raffaello! Meine Pinsel und meine Farben stehen zu deiner Verfügung.«
Als ich mich nicht rührte, hielt er mir erneut mit ausgestrecktem Arm den Pinsel vor die Augen, wie ein Schwert, zum Duell erhoben.
»Ich kann nicht …«, begann ich.
Leonardo schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du bist zum Malen nach Florenz gekommen. Ich dachte, du bist gekommen, um deine Grenzen zu erforschen«, provozierte er mich.
Er legte das kurze Doublet ab und zog dabei das weiße Leinenhemd halb aus der engen Hose. Trotz seines Alters von zweiundfünfzig Jahren war sein Körper fest und muskulös wie der eines jungen Mannes. Sein Körper war besser in Form als meiner, obwohl ich bis vor wenigen Tagen nach der täglichen Fechtstunde gelaufen oder geritten war. Hatte er die Rezeptur des ewigen Lebens gefunden?
»Ich gehe jetzt schlafen!«, verkündete er, als er meinen fragenden Blick bemerkte.
»Schlafen?«, fragte ich ungläubig. »Aber es ist heller Tag!«
»Die Intuition und der Ingenio sind Geschöpfe der Nacht. So wie ich! Ich arbeite nachts am besten an meinen Skizzen und Erfindungen. Deshalb schlafe ich nach Sonnenaufgang.«
Leonardo verschwand in dem benachbarten Saal, in dem sein Bett stand, und zog den Vorhang hinter sich zu.
Durfte ich … sollte ich bleiben?
Ich wollte bleiben.
Die Madonna Lisa ließ mich ihre Sinnlichkeit und ihre Seele erkennen. Kein Zweifel: Sie war Leonardo selbst! Die Offenbarung seiner geistigen Jugend und seiner unvergänglichen Schönheit. Das Bekenntnis seiner Weiblichkeit und seiner Sehnsucht nach Liebe. Fasziniert glitt mein Blick über die zarten Hände, den lächelnden Mund und die geheimnisvollen Augen, die mich nicht ansahen. Sie war vollkommen. Eine Spiegelung des Unsichtbaren.
Keinen Pinselstrich durfte ich verändern!
Auf eine zweite Staffelei stellte ich eine vorbereitete Holztafel, deren Maße denen der Madonna Lisa entsprachen. Mit meinem Kohlestift zeichnete ich die Umrisse der Lisa Gioconda auf die Tafel. Die aufsteigende Linie des rechten Ärmels vom linken unteren Bildrand über die weich geschwungene Schulter und das Haar bis zum Zenit des Bildes. Die Kaskade ihrer Locken und den schimmernden Stoff des linken Ärmels vom Zenit bis in die Schwärze des rechten unteren Bildrandes hinein. Die ruhenden Hände.
Ich wollte das tun, weswegen ich hierher gekommen war: Ich wollte lernen!
Leonardo hatte für die Madonna Lisa Farbpigmente mit Nussöl und Wacholderessenz vermischt und in unzähligen dünnen, beinahe transparenten Lasuren über der silberfarbigen Grisaille-Grundierung und der skizzierten Untermalung aufgetragen. Ich zog es vor, die Lasuren ohne Untermalung auf die vorbereitete Holztafel aufzutragen.
Die zu feinem Pulver zermahlenen Farben mischte ich mit Leonardos
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