Der Fürst der Maler
und seiner Gemahlin Penelopeia, die den nach Ithaka Heimgekehrten noch nicht erkannt hatte.
»Erkläre du es ihnen selbst, Odysseus«, unterbrach Michelangelo Leonardo zornig. »Dein ganzes Leben ist eine Odyssee! Vinci, Florenz, Mailand, Mantua, Venedig und nun wieder Florenz! Du bist weiter gereist als Odysseus. Sogar nach Constantinopolis wolltest du. Und was hast du erreicht, da Vinci? Alles beginnst du, nichts kannst du vollenden!«
Leonardo war zornig aufgesprungen. Die Auseinandersetzung mit Michelangelo vor wenigen Tagen im Ratssaal hatte ihn sehr erregt. »Aber du … du vollendest, was du beginnst, nicht wahr, Buonarroti? Was ist mit den Figuren für den Piccolomini-Altar im Dom von Siena? Hast du auch nur eine einzige Figur begonnen, bevor du den Vertrag annulliert hast? Und was ist mit den zwölf Aposteln für Santa Maria del Fiore? Ist der Evangelist Matthäus schon fertig? Du beschuldigst mich, kein Werk zu vollenden? Du, der du die Hälfte deiner Werke gar nicht erst beginnst?«
»Du arroganter, parfümierter Fürst von Vinci!«, brüllte Michelangelo und wollte auf Leonardo losgehen. Am Ärmel hielt ich ihn fest.
»Von einem Mann mit deinen Umgangsformen nehme ich derartige Komplimente nicht an«, fauchte Leonardo zurück. »Du hast die Manieren eines Metzgers vom Ponte Vecchio! Du Steinschlachter!«
»Einen Steinschlachter nennst du mich?«, brüllte Michelangelo und riss sich von mir los.
Nun war auch Pietro Perugino aufgesprungen, um seinem Freund Leonardo zu Hilfe zu kommen. »Leonardo hat Recht! Du schlachtest nicht nur deine Marmorblöcke wie ein Metzger seine Rinderhälften auf dem Ponte Vecchio. Du malst die Schlacht von Cascina auch mit dem Talent eines Pferdeknechtes: Die Figuren sind nackt wie Vieh. Kunst ist mehr als nackte Leiber in Bewegung. Du zerstörst alles, wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe. Du vergewaltigst die Anmut und die Schönheit!«
Pietro hatte vor kurzem Michelangelo in seiner Bottega besucht und den Karton besichtigt. Anschließend war er zu mir gekommen, um seinem Ärger Luft zu machen.
Michelangelo explodierte: »Und du, Vannucci, bist kein Maler, sondern ein Wanddekorateur! Durch endlose Wiederholung der immer gleichen Figuren hast du dich zu einer Kopie deiner selbst degradiert. Jeder Künstler muss die Kunst neu erfinden, und das tue ich! Ich stelle den Menschen dar, wie er ist: nackt im Angesicht Gottes. So – und nicht anders – male ich ihn. Und nun geh mir aus dem Weg, du schlechte Kopie von einem Künstler!«
Ich zog den tobenden Michelangelo aus der Trattoria, bevor er auf Pietro oder Leonardo losgehen konnte. Den Rest des Abends musste ich Michelangelos Flüche erdulden.
Am nächsten Morgen wurde er in den Palazzo della Signoria gerufen. Pietro Perugino hatte ihn wegen Verleumdung verklagt. Piero Soderini hörte sich geduldig die Beschimpfungen beider Künstler an, bevor er sie dazu verurteilte, sich gegenseitig zu entschuldigen. Dann erst überreichte er Michelangelo das Breve des Papstes, das ihn nach Rom rief.
Papst Julius wollte Michelangelo noch vor Ostern in der Caput Mundi sehen, um mit ihm über die Pläne für das Grabmal zu sprechen. So sehr sich Michelangelo über die Einladung freute – Andrea Sansovino und er wollten sich einer venezianischen Reisegruppe anschließen und zusammen nach Rom reisen –, so ungünstig erschien ihm der Zeitpunkt, Florenz zu verlassen. Er wollte die Kämpfer von Cascina malen, bevor Soderini auf die Idee kommen könnte, ihm diese Aufgabe zu entziehen, weil er sich monatelang in Rom aufhielt. Außerdem musste er den Matthäus, die erste von zwölf Figuren für den Dom, fertig stellen. Die Figur des Evangelisten war erst zur Hälfte aus der ewigen Ruhe des Marmors emporgetaucht, das linke Knie vorgestreckt, die rechte Schulter nach vorne gedreht, das Gesicht zu Gott erhoben.
»Che grandezza e che grandiosità!« , bewunderte ich ein paar Tage später die Statue, meine Hand am Stein. »Wie viele Figuren wie den Matthäus willst du meißeln?«
Auf dem Zeichentisch seiner Bottega hatte Michelangelo seine Pläne für das Grabmal ausgebreitet. »Ich habe sie nicht gezählt.« Er deutete auf die Entwürfe: »Das ist Moses … und dort sitzt Paulus .«
Ich trat neben ihm an den Tisch. Das Grabmal war der zu Stein gewordene Traum eines Titanen. Auf einem zehn Ellen hohen Sockel aus Marmor mit vier gigantischen Statuen auf jeder der vier Seiten sollte ein turmartiger Aufbau mit jeweils zwei Sitzstatuen auf
Weitere Kostenlose Bücher