Der Fürst der Maler
Basilika waren bereits abgerissen worden, um für die neue Kathedrale, die größte der Christenheit, Platz zu schaffen. Giuliano war nach Rom gereist, um dem Papst seine Pläne für den Neubau vorzulegen und von ihm zum Bauleiter von San Pietro ernannt zu werden.
Giuliano schrieb weiter, dass Papst Julius einen Bildhauer und Architekten für die Kirche Santa Maria del Popolo benötige. Er habe an Andrea Sansovino gedacht, der schon für den König von Portugal gearbeitet hatte …
Michelangelo hatte Andrea angestarrt. In der Bottega war es totenstill gewesen. Jeder von uns gönnte Andrea diesen Triumph! Für Papst Julius zu arbeiten war der Gipfel seiner Karriere. Doch jeder von uns sah Michelangelos Gesichtsausdruck. Er hatte damit gerechnet, nach Rom gerufen zu werden.
Seit Wochen hatte er neben der Schlacht von Cascina an den Entwürfen für Julius’ gigantisches Grabmal gearbeitet. Vierzig monumentale Statuen hatte Michelangelo entworfen, die an den Seiten einer gewaltigen Konstruktion aus Marmor und Bronze unter der neuen Kuppel von San Pietro aufragen sollten. Ad maiorem gloriam Dei – zur höheren Ehre Gottes. Und seines ruhmsüchtigen Stellvertreters auf Erden.
Michelangelo hatte Andreas Einladung nach Rom als eine Niederlage betrachtet. Er hatte sich nicht einmal bemüht, das Gefühl der tiefen Demütigung vor mir zu verbergen. Er war der beste Bildhauer von Florenz! Warum also war er nicht nach Rom berufen worden?
»Niemand lacht über dich, Michelangelo! Wie könnte jemand über den Schöpfer des David lachen? Wenn du erst die Schlacht von Cascina vollendet haben wirst …«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
»Leonardo hat sich über mich lustig gemacht! Er nennt meinen Entwurfskarton ›Die Badenden‹«, begehrte er auf. »Als würde ich eine Landpartie am Arno malen!«
»Und wie hast du seine Schlacht von Anghiari genannt? Der ›Sturz des Phaeton‹«, unterbrach ich ihn ungeduldig.
Tatsächlich hatte Michelangelo Leonardo in einem lauten Streit im Großen Ratssaal als Phaeton bezeichnet. Der Phaeton der antiken Sage war der Sohn des Sonnengottes Helios, der seinen Vater angefleht hatte, ihm für einen Tag die Lenkung des geflügelten Sonnenwagens anzuvertrauen. Damit hatte er mehr erstrebt, als alle anderen Götter leisten konnten. Unfähig, die wilden Rosse des Wagens zu beherrschen, war Phaeton abgestürzt. Michelangelo hatte Leonardo beschuldigt, seine galoppierende Fantasie nicht zügeln zu können und sich mit so unsinnigen Erfindungen wie optischen Linsen zur Beobachtung einer Mondfinsternis zu beschäftigen. Vor allem aber ärgerte es ihn maßlos, dass Leonardo für seine Schlacht tausend Fiorini als Honorar erhalten sollte, er selbst jedoch nur dreihundert. Es war sein größter Auftrag nach dem David, und es verstimmte ihn, dass sein Werk so viel geringer eingeschätzt wurde als Leonardos. Wusste er, dass Niccolò Machiavelli seinem Freund Leonardo diesen Auftrag besorgt hatte? Und dass Niccolòs wachsender Einfluss in Florenz der Grund war, dass sich Soderini um Michelangelo bemühte?
Schweigend ging Michelangelo neben mir her. Meinem Blick wich er aus. Am Ponte Santa Trinità bogen wir ab und gingen die Straße hinauf zur Banca Spini, wo Michelangelo seine Fiorini abhob.
Wir beschlossen, uns in der Trattoria gegenüber einen Becher Wein zu bestellen, und verließen das Bankhaus.
Ich war froh, dass Michelangelo und ich uns wieder versöhnen wollten. Sein Ausbruch vor wenigen Tagen hatte mich sehr berührt. Bei einem Glas Chianti wollte ich ihm sagen, wie viel mir seine Freundschaft bedeutete. Wie sehr ich ihn bewunderte! Ihn liebte. Doch dazu sollte es nicht kommen.
In der Trattoria saß Leonardo mit Sandro Botticelli und Pietro Perugino und einigen anderen Malern und diskutierte angeregt. Vor sich auf dem Tisch hatte Leonardo ein Buch liegen: die Odyssee.
Mitten im Eingang der Trattoria blieb Michelangelo stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
Leonardo hatte uns gesehen. »Da kommt Michelangelo! Er wird es uns erklären«, rief er so laut, dass sich alle Gäste zu uns umdrehten.
»Was soll ich erklären?«, fauchte Michelangelo, der alle Blicke auf sich gerichtet fühlte.
»Es geht um einen Vers der Odyssee «, begann Leonardo. Ich hatte ihm erzählt, dass Michelangelo Homers Odyssee öfter gelesen hatte als die Evangelien, und dass er die Hexameter auswendig konnte. Leonardo deklamierte mit seiner schönen Stimme eine Passage aus dem Gespräch zwischen Odysseus
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