Der Fürst der Maler
jeder Seite errichtet werden.
»Und die Figuren im Unterbau des Grabmals?«, erkundigte ich mich.
Michelangelo deutete auf zwei skizzierte Figuren. Seine Finger berührten nicht nur unabsichtlich meine Hand. »Der Gefesselte Sklave und der Sterbende Sklave. Sie stellen die heidnischen Völker dar. In ihrer gequälten Haltung verkörpern sie das vergebliche Ringen um Freiheit.«
»Sie werden sehr lebendig sein, deine gefesselten Sklaven! Du wirst viel von dir selbst in sie hineinmeißeln …«
»Wie meinst du das?«, fragte er verdutzt.
»Mit diesen Entwürfen machst du dich selbst zum Gefangenen, Michelangelo. Zum Gefangenen deiner Idee und deines verdammten Ehrgeizes. Das sind sechzehn Sklaven, acht Propheten und unzählige allegorische Figuren. Und ganz oben zwei Engel – ein lachender, ein weinender. Der lachende Engel freut sich über die Großartigkeit dieses Grabmals, dessen Ruhm Jahrhunderte überdauern wird – und der weinende Engel trauert um einen großen Künstler, der sich zu Grunde gerichtet hat. Mehr als vierzig Figuren! Du bist wahnsinnig!«, schrie ich ihn an. Ich war verzweifelt über seine Maßlosigkeit.
»Du meinst größenwahnsinnig?«, brüllte er zurück.
»Wie lange hast du für die Pietà in Rom gebraucht?« Nur mit Mühe konnte ich meinen Zorn bändigen.
»Ein Jahr«, knirschte er.
»Und für den David ?«
»Zwei Jahre.«
»Dann solltest du mäßig essen, auf Wein verzichten und dich von Frauen fern halten«, riet ich ihm mit beißendem Spott. »Das rät jedenfalls Cennini in seiner Abhandlung über die Kunst. Vielleicht wirst du dann das Alter des Moses erreichen. Denn hundertzwanzig Jahre alt musst du werden, wenn du das alles schaffen willst.«
»Ich werde Tag und Nacht arbeiten, Raffaello.«
»Das tust du doch jetzt schon. Die Schlacht von Cascina ist noch längst nicht gewonnen. Der Matthäus ist erst zur Hälfte aus dem Stein gekommen. Und die elf anderen Statuen für den Dom hast du noch nicht einmal entworfen! Was ist mit …«
»Ich will es schaffen«, beharrte er stur.
»Daher weht der Wind«, rief ich wütend aus. »Das ist gar nicht Julius’ Denkmal. Sondern deines! In memoriam Michelangelo Buonarroti, dem größten Bildhauer aller Zeiten!«
Michelangelo warf mich aus seiner Werkstatt und schloss sich für drei Tage ein, um die Pläne zu überarbeiten. Er war für niemanden zu sprechen, nicht einmal für Piero Soderini. Er zögerte die Abreise nach Rom so lange hinaus, bis Niccolò Machiavelli ihn als sein Freund ernsthaft aufforderte, dem Wunsch des Papstes Folge zu leisten. In der Karwoche packte Michelangelo seine Reisetruhen und machte sich auf den Weg.
Es war die Nacht der Colombina, der weißen Taube, als ich sie wiedersah.
Die feierliche Ostermesse, die ich mit meinen Freunden Fra Bartolomeo und Bastiano da Sangallo besucht hatte, war mit dem Echo des Te Deum in Santa Maria del Fiore zu Ende gegangen. Bastiano, mein Freund und Mitschüler in Peruginos Werkstatt, war ein Neffe von Giuliano und Antonio da Sangallo. Ich hatte ihn vor wenigen Tagen zufällig beim Apotheker getroffen, als ich Farben kaufen wollte.
Die Kirche war überfüllt, aber nicht weil Ostersonntag war, sondern weil in dieser Nacht die Colombina fliegen würde. Die Menge strömte auf das Domportal zu und riss uns mit. Und weil sich auch auf der Piazza rund um die Taufkapelle San Giovanni und vor dem Dom die Menschen drängten, kam der Fluss derjenigen, die die Kirche verlassen wollten, vor dem Portal ins Stocken. Bartolomeo, Bastiano und ich wurden getrennt, obwohl der Frater mich am Ärmel gepackt hatte.
Ich hatte das Bronzetor des Domes erreicht. Über mir spannte sich das Drahtseil zwischen dem Hochaltar und dem Wagen, der vor San Giovanni aufgestellt worden war. Jedes Jahr fand am Ostersonntag der Scoppio del Carro, die Explosion des Wagens, statt. Dieses Fest wurde seit fast vierhundert Jahren gefeiert, seit der Kreuzfahrer Pazzino de’ Pazzi drei Feuersteine nach Florenz gebracht hatte, die vom Grab Christi stammen sollten. In einer feierlichen Prozession der Nobiltà von Florenz, die ich mit Taddeo und seinen Freunden von der Ehrentribüne auf der Piazza aus beobachtet hatte, wurde ein reich verzierter Wagen mit Feuerwerkskörpern von zwei weißen Ochsen auf die Piazza gezogen. Während der abendlichen Messe war das gespannte Seil, das vom Altar durch das offene Portal bis San Giovanni reichte, am Wagen befestigt worden.
Bastiano winkte mir von der anderen Seite der Basilika
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