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Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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meine Launen, meinen Zorn, mein Schweigen.
    Ich flüchtete mich zu Leonardo, der begonnen hatte, seine Kartons zur Schlacht von Anghiari auf die Wände des Ratssaals zu übertragen. Die Gehilfen, die er vor kurzem eingestellt hatte, kletterten auf dem Gerüst herum, befestigten die Kartons an der Wand und übertrugen mit Kohlestaubbeuteln die punktierten Umrisse der Kämpfenden auf den weißen Putz. Der experimentierfreudige Leonardo plante mit in Leinöl gelösten Farben auf dem getrockneten Verputz zu malen, nicht wie üblich al fresco. Er hatte das Farbrezept einem Buch des antiken Schriftstellers Plinius entnommen, hatte es vervollkommnet und an der Wand eines Saales in Santa Maria Novella ausprobiert. Ich half beim Zerreiben der Farben und zog die ersten Umrisslinien mit dem Pinsel nach.
    Zornig und schweigend.
    Eines Abends besuchte ich Michelangelo in seiner Werkstatt, wo er mit den ersten Entwurfskartons für die Schlacht von Cascina begonnen hatte. Stundenlang stand ich vor seinen überlebensgroßen, nackten Kriegern, kopierte, skizzierte und entwarf Schlachtszenen, die sich in meinen Gedanken abspielten.
    Schweigend.
    Michelangelo schien auch ohne Worte zu verstehen, was in mir vorging. Wir verlegten unsere Auseinandersetzung von den lieb gewordenen Wortgefechten auf das Duell mit Silberstift und Rötel. Das Schweigen zwischen uns hatte etwas Sanftes, etwas Vertrautes, beinahe Zärtliches. Er ließ mich tief in die Welt seiner Gedanken eindringen, zeigte mir seine Skizzen nackter Gestalten und die leuchtenden Temperafarben, mit denen er malte. Ich folgte ihm in die Terra Incognita seiner Sehnsucht nach Gott und der Erlösung aus der Enge eines Körpers, der ihm nicht zu gehorchen schien, in das unbekannte Land seiner grenzenlosen Gefühle und seiner Verletzlichkeit. Ich erkannte, dass er in seinen Werken lebte, im Kämpfer David und im nackten Gekreuzigten von Santo Spirito.
    Wie ein Liebender tauchte ich ein in seine geheimsten Gedanken, wenn ich in seiner Bottega zeichnete.
    Michelangelo beobachtete mich, setzte sich neben mich und verglich seine Darstellung der Wirklichkeit mit meiner, nahm mir Stift und Skizzenblock aus der Hand, um einige Silberstriche zu korrigieren.
    Seine Finger berührten meine Hand, hielten sie fest wie eine Taube, die davonfliegen will. Sie zitterten.
    »Warum kommst du immer wieder hierher, Raffaello?«, flüsterte er. »Willst du mich quälen? Du weißt, dass ich dich liebe …«
    »Ich komme, weil ich noch so viel zu lernen habe«, sagte ich.
    »Was willst du noch lernen, Raffaello? Deine Perspektive ist perfekt. Du zeichnest den Menschen in Anatomie und Haltung, wie Gott ihn erschaffen hat: anmutig, aufrecht und stark. Nicht hässlich und gekrümmt, entstellt von Krankheit und Schmutz, wie er wirklich ist. Du malst mit Licht …«
    »Ich will Gefühle malen. Die Seele.«
    »Die Seele?«, fragte er. »Wessen Seele? Wessen Gefühle?« Die Finger, die meine Hand mit dem Stift hielten, zitterten. »Bin ich dein Modell, Geliebter? Studierst du mich, während du die Kämpfenden der Schlacht von Cascina anstarrst?«
    Betroffen schwieg ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    Warum kehrte ich immer wieder zu ihm zurück? Ich war fasziniert, nicht nur von seinen Werken, sondern von ihm selbst. Wir waren uns sehr nahe gekommen in diesen Wochen. Zu nahe?
    Er hatte begonnen, mich zu formen wie einen unbehauenen Marmorblock. Viele Kanten waren geglättet. Er hatte Formen aus dem Stein befreit, die ich nie zuvor an mir wahrgenommen hatte.
    Michelangelo deutete auf den riesigen Entwurfskarton, der an der Wand seiner Bottega lehnte. »Welche dieser Figuren bin ich, Raffaello? Der Krieger, der sich aus dem Wasser an das feste Ufer rettet? Oder jener dort, der sich zum Kampf rüstet?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Du bist der Ertrinkende, der den Männern am Ufer die Hände entgegenstreckt, um von ihnen aus dem tiefen Wasser gezogen zu werden. Aber dort ist niemand, der dich rettet, Michelangelo.«
    Ein Gefühl huschte über sein Gesicht, und ich dachte, er würde mich wieder schlagen. Doch er barg sein Gesicht in den Händen. Er weinte.
    Seine Kindheit war so einsam gewesen wie meine eigene. Wir waren beide in der Werkstatt unseres Maestro aufgewachsen, er bei Domenico Ghirlandaio, ich bei Pietro Perugino. Sie waren uns Vater, Bruder, Lehrer und bester Freund. Sie gaben uns zu essen, zu trinken, zu denken und zu arbeiten. Sie lehrten uns alles, was es zu wissen gab. Alles, außer die

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