Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
Vom Netzwerk:
die antike Enkaustikmalerei des Plinius wiederzubeleben, war gescheitert. Der Verputz im Ratssaal zeigte die ersten Verwerfungen, weil die Mischung von Leinöl und Bienenwachs trotz der Sommerhitze nicht getrocknet war. Die Fixierung der Farben mithilfe von Kohlefeuern hatte dazu geführt, dass die obere Hälfte des Freskos zwar abtrocknete, die Farben im unteren Teil jedoch wegen der großen Hitze der Feuer zu schmelzen und zu verlaufen begannen. Leonardo hatte nicht den Mut, den Verputz abzuschlagen und noch einmal von vorne zu beginnen.
    »Du regierst Florenz«, wiederholte Perugino mit einem säuerlichen Lächeln, als das Mädchen einen Zinnbecher mit Wein auf den Tisch gestellt hatte. »Die reichsten Familien von Florenz belagern deine Bottega, um dir die Bilder von der Staffelei zu reißen. Du arbeitest Tag und Nacht, um die Aufträge erfüllen zu können.«
    Wollte Pietro mich erneut herausfordern? Wie er es getan hatte, als er von seinem Freund Piero di Cosimo erfahren hatte, dass ich Andrea del Sarto aus meiner Werkstatt geworfen hatte? Er hatte mich arrogant genannt. Er hatte mich mit Michelangelo verglichen, den er als überheblich beschimpfte.
    Ich sagte nichts und trank meinen Weinbecher leer.
    Warum hatte Pietro um dieses Treffen in der Trattoria gebeten? Was wollte er von mir? Mich erneut beleidigen?
    »Du lässt dir nicht einmal von einem so vielversprechenden jungen Maler wie Andrea del Sarto helfen«, fuhr Pietro fort. »Andrea betet dich an, Raffaello!«
    Ich hatte nicht vor, mit Pietro über Andreas Fähigkeiten zu diskutieren. Auf keinen Fall!
    Das Mädchen füllte meinen Zinnbecher mit Wein. Sie lächelte mich an. Wie vor zwei Tagen, als ich sie abends im Kerzenschein in meiner Bottega gezeichnet hatte. Als Madonna.
    »Du bist … du bist besser geworden, Raffaello«, bekannte Pietro leise. So leise, dass ich seine Stimme zwischen den Wortfetzen der Gespräche an den anderen Tischen kaum hören konnte. »Besser als ich.«
    Wenn ich geahnt hätte, welche Selbstüberwindung ihn diese Worte gekostet hatten! Besser als mein Maestro! War das nicht das Ziel meines Weges gewesen: das Überflügeln der provinziellen Durchschnittlichkeit in meinem Streben nach Perfektion? Das Ausloten meiner tiefsten Gefühle? Die Anerkennung als Künstler – und als Mensch? Und vor allem: die Liebe, die dem Waisenkind Raffaello Santi seit seinem elften Lebensjahr vorenthalten worden war? Besser als mein Maestro! Das Echo der Worte klang in meinen Ohren wie der Kanonendonner des Siegers. Es übertönte jedes Mitgefühl mit dem Unterlegenen.
    »Hast du mich hergebeten, um mir das zu sagen?«, forschte ich nach.
    »Nein, Raffaello. Ich wollte dir mitteilen, dass ich Florenz verlasse. Morgen werde ich nach Perugia zurückkehren. Dort gibt es keinen Michelangelo und keinen Leonardo. Und keinen Raffaello. Aber dafür jede Menge Gewinn bringender Aufträge ohne Termindruck. Und ohne Konkurrenz.«
    Mir fehlten die Worte.
    Was hatte ich getan? Ich hatte meine Grenzen erforscht. Ich war weit gegangen, zu weit. Ich hatte Michelangelo, der mich liebte, zum Kampf herausgefordert. Und ich hatte Pietro Perugino, der mich wie ein Vater bei sich aufgenommen hatte, besiegt. Mein grenzenloser Ehrgeiz hatte mich getrieben. Wohin? Fort von mir selbst. Ich hatte fliegen gelernt! Und dabei den Bodenkontakt verloren.
    »Du hast erreicht, was du wolltest, Raffaello. Ich gehe. Mit demütig gesenktem Haupt. Florenz ist zu klein für uns beide«, gestand Pietro. »Viel zu klein!«
    »Pietro …«, begann ich.
    Doch in welche unfarbigen Worte konnte ich meine Bitte um Vergebung verpacken?
    »Du regierst Florenz wie ein Fürst, Raffaello«, wiederholte er.
    »Pietro …«, begann ich erneut.
    Der Lorbeer des Siegers hatte mir den Blick für das Wesentliche verstellt: die Gefühle eines anderen Menschen!
    »Lass uns Frieden schließen, Raffaello! Wie zwei siegreiche Feldherren. Ich gebe dir Florenz. Und du überlässt mir Perugia«, schlug Pietro vor.
    Ich schwieg betroffen. Und beschämt.
    Sollte ich ihm von meinem Vertrag mit den Mönchen von San Severo in Perugia erzählen, die ein Fresko der Trinità bei mir bestellt hatten? Oder von der Anfrage der Nonnen von Monteluce für eine Marienkrönung im nächsten Frühjahr? Oder sollte ich ihn in der Hoffnung ziehen lassen, mich nie wiederzusehen?
    An diesem Abend ertränkte ich das schmerzhafte Gefühl, der eigentliche Verlierer in unserer Auseinandersetzung zu sein, in mehreren Bechern Wein. Am

Weitere Kostenlose Bücher