Der Fürst der Maler
unbemerkt von mir angefertigt hatte: den Kopf halb abgewandt, sah ich den Betrachter des Bildes mit einer zweifelnd hochgezogenen Augenbraue an, meine Hand ruhte auf dem Buch, das ich gerade las. Nur mit Mühe konnte ich ihm ausreden, den Titel in Goldlettern zu malen: Senecas De tranquillitate animi. Ein wahrhaft herrschaftliches Porträt für einen Fürsten – den Malerfürsten Raffaello Santi!
Albrecht und ich lachten Tränen über Tizianos Gemälde.
Wie konnten wir ahnen, wohin unser Dämon uns führen sollte: dass ich eines Tages der Maler des Papstes sein würde und Tiziano der des Kaisers und Albrecht der berühmteste Kupferstecher der Welt …
Albrecht und ich saßen auf der Spitze des Quais gegenüber San Marco und dem Palazzo Ducale und starrten auf die in der Sonne glitzernde Lagune hinaus, in der Schiffe aus aller Welt ankerten: hanseatische Koggen, arabische Dhaus und spanische Galeonen.
Albrecht hatte endlich seine Holzschuhe ausgezogen und ließ seine nackten Füße ins Wasser hängen. In Nürnberg trug man die klobigen Holzschuhe, um die regendurchweichten Schlammwege trockenen Fußes überqueren zu können. In Venedig waren die Wege neben den Kanälen gepflastert.
Träge lag ich auf dem Quai und ließ mir die Herbstsonne ins Gesicht scheinen. Ich war müde, weil Tiziano und ich die halbe Nacht maskiert durch die Gassen von Venedig gezogen waren. Die leise gegen den Quai schwappenden Wellen machten mich schläfrig.
»Schläfst du?«, neckte mich Albrecht und ließ das Aquarell, an dem er den halben Nachmittag gearbeitet hatte, sinken.
»Nein, ich arbeite«, klärte ich ihn auf und blinzelte in das grünlich blaue Licht der Lagune, die wie ein Opal in der Sonne schimmerte.
»Und was arbeitest du, Raffaello?«, fragte Albrecht verblüfft.
»Ich betreibe Farbstudien. Ich studiere die Farbe des Himmels, der Lagune …«
»Ihr Italiener seid Meister der Lebenskunst«, rief Albrecht. »Farbstudien! Ich nenne es: faul in der Sonne liegen.«
»Dafür seid ihr Deutschen Meister der Askese«, lästerte ich. »Kein Wunder, dass ihr Erasmus von Rotterdam hervorgebracht habt.«
Erasmus hatte das Neue Testament im griechischen Urtext herausgegeben und eine neue lateinische Übersetzung beigefügt, die er von Falschübersetzungen und Zusätzen befreit hatte. Die Veröffentlichung hatte in Florenz, wo man sich noch gut an Savonarolas Predigten erinnern konnte, für Aufsehen gesorgt. Ich hatte eines der letzten Exemplare der Auflage zu einem völlig überhöhten Preis ergattern können.
»Erasmus ist ein Niederländer«, begehrte Albrecht auf. »Kein Deutscher. Und ich bin Franke.«
»Das ist doch dasselbe«, erklärte ich großzügig. »Für einen Italiener ist alles nördlich der Alpen deutsch.«
»Barbarisch – das wolltest du sagen. Ihr Italiener haltet euch für die Verkünder des neuen Evangeliums des Humanismus.«
»Aber das sind wir!«, rief ich mit gespieltem Ernst aus. Es machte mir ein ungeheures Vergnügen, Albrecht zu provozieren. »Denk nur an Marsilio Ficino, Angelo Poliziano und Giovanni Pico della Mirandola: Die größten Denker des Humanismus kommen aus Florenz! Denk an die Dichter Dante Alighieri, Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio: Sie waren Florentiner! Denk an Giotto, an Masaccio, an Leonardo und Michelangelo! Und der Buchdrucker Bernardo Cennini schrieb lange vor Johannes Gutenberg: Florentinis ingeniis nihil ardui est – dem florentinischen Erfindungsgeist ist nichts unmöglich.«
»Denk an Fra Savonarola: Er war sogar heiliger als der Papst«, machte Albrecht meinen Tonfall nach. »Oder an Raffaello Santi! Du wirst noch zu Lebzeiten heilig gesprochen.«
Ich wusste, worauf er anspielte. Albrecht und ich hatten am Vortag zusammen mit Giovanni Bellini die Kirche San Zaccaria besucht und dort die Aufstellung und Enthüllung seines Altarbildes beobachtet. Ich hatte eine Federskizze von der thronenden Madonna angefertigt. Doch die Farben – diese wunderbaren venezianischen Farben – konnte ich nicht einfangen!
»›Ich weiß, dass ich nichts weiß!‹, hast du gesagt. Gut, dass du Sokrates nicht auf Griechisch zitiert hast, sonst hätten weder Giovanni Bellini noch ich dich verstanden, Raffaello! Du weißt sehr gut, was du kannst und was nicht …«, hatte Albrecht gesagt.
»Muss nicht die Demut am Anfang unseres Lernens stehen?«, hatte ich ihn unterbrochen. »Muss unser Geist nicht frei sein von schon formulierten Fragen und bereits gegebenen Antworten, wenn er
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