Der Fürst der Maler
ist. Er verlässt uns nicht, auch wenn wir dem Ruf nicht gehorchen. Immer wieder erinnert er uns an das, was wir tun müssen.
Selig sind die, die den Weg durch das Inferno der Selbstzweifel auch in der Dunkelheit erkennen können, denn sie werden das Licht finden. Selig sind die, die keiner Wahrheit glauben außer der, die sie selbst erschaffen haben. Selig sind die, die wissen, was es bedeutet, alles zu verlieren, denn sie können alles gewinnen: die Freiheit!
Auch mein Exodus fand mitten in der Nacht statt. Und wie Moses brach ich auf ins Gelobte Land.
Gianni und ich ritten nach Norden: nach Venedig.
Das Licht der Serenissima riss mich aus meinen düsteren Gedanken. Ich genoss meine Freiheit und malte zwei Monate lang keinen einzigen Pinselstrich!
Gianni dagegen arbeitete Tag und Nacht. Er kaufte neue Farbpulver bei den Apothekern der Stadt und mischte mir in unserer Herberge venezianische Farben, denen er fantastische Namen gab: Prima Luce sulla Laguna, Riflessi sull’Acqua und Laguna Sfumata. Nichts in seinen nach orientalischen Gewürzen duftenden Farben erinnerte an das Silbergrün der Olivenbäume und Weinberge, an die wogenden Weizenfelder und die rotbraune Erde der Toskana. Er mischte mit einer Hingabe, als würde er Agnellotti mit Fasanfüllung für uns kochen.
Statt zum Pinsel griff ich zur Feder. Ich schrieb dem Prior von San Severo, der mich für den November für ein Fresko verpflichtet hatte, dass ich meinen Aufenthalt in Perugia auf den Sommer des nächsten Jahres verschieben müsste. Ich hatte keine Lust, mir während des Winters in der unbeheizten und durch den Freskoverputz noch dazu feuchten Kirche die Finger zu erfrieren. Stattdessen genoss ich den warmen Spätsommer in Venedig.
Von den Gondolieri ließ ich mich durch den nach Algen stinkenden Canal Grande bis San Marco rudern, drängte mich durch die von Leben berstenden Gassen und besuchte den fast achtzigjährigen Maestro Giovanni Bellini in seiner Werkstatt, um ihn um einige Zeichnungen von seiner Hand zu bitten.
Gianni blieb mit offenem Mund in der Tür stehen, als er Maestro Albrecht Dürer aus Nürnberg als Gast in Bellinis Bottega erkannte. Ich freute mich, Maestro Albrecht endlich persönlich kennen zu lernen. Wir hatten in den letzten Monaten Briefe und Skizzen ausgetauscht, die wir der Post der Augsburger Fugger mitgaben.
Albrecht hatte bei seinem Vater das Goldschmiedehandwerk erlernt, war dann aber über die Kupferstiche von Martin Schongauer zur Malerei und Kupferstecherei gekommen. Er war vor zehn Jahren bereits einmal in Venedig gewesen. Das Licht und die Lebensfreude der Serenissima hatten ihn erneut angezogen.
Er hatte dieselbe Neigung zur Selbstinszenierung wie Leonardo: Er schlüpfte je nach Situation in die unterschiedlichsten Rollen, kleidete sich abwechselnd wie ein reicher venezianischer Kaufmann oder ein bettelarmer fränkischer Maler. Er war ein begnadeter Schauspieler, imitierte Giovanni Bellini und Giorgione da Castelfranco, war ganz nach seiner Laune ein weltgewandter Humanist mit akzentfreiem Latein oder ein begriffsstutziger fränkischer Kupferstecher ohne Umgangsformen. Er nahm weder sich selbst noch den Rest der Welt ernst.
Während seines Aufenthaltes in Venedig malte Albrecht für die deutschen Kaufleute im Fondaco dei Tedeschi, der Warenbörse der deutschen Handelsherren, ein Madonnenbild, das er Das Rosenkranzfest nannte. Das Gewand der Madonna erstrahlte in dem klarsten Blau, das ich je gesehen hatte. Damit widerlegte er das Vorurteil des Dogen, er sei nur als Kupferstecher gut, wüsste aber nicht mit Farben umzugehen. Über mein Kompliment, er male wie ein Italiener, freute er sich so, dass er mir ein paar seiner Aquarelle schenkte: Bilder von spitzgiebeligen Fachwerkhäusern in Nürnberg mit Fenstern aus kleinen Butzenscheiben anstelle von ölgetränktem Pergament.
Gemeinsam besuchten Albrecht und ich Maestro Tiziano Vecelli in seiner Werkstatt. Tiziano war ein paar Jahre jünger als ich.
Wir zogen jeden Abend durch die Weinschänken von Venedig und skizzierten die venezianischen Mädchen. Nicht ein einziges Mal dachte Albrecht an seine Frau Agnes in Nürnberg, wenn wir uns vergnügten.
Wir waren wohl alle drei nicht mehr nüchtern, als Tiziano auf die Idee kam, mich zu malen. Wer hätte je davon gehört, dass ein Maestro einen anderen porträtierte! Einen Herzog, einen Kardinal, einen Papst: ja! Aber einen Freund?
Tiziano zeigte mir die Skizze, die er eines Abends in einer Trattoria
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