Der Fürst der Maler
Gottverlassenheit? Im 22. Psalm hatte ich Seine Worte gefunden. Hier hieß es jedoch nicht ›Warum?‹ sondern ›Wozu hast Du mich verlassen?‹. Jesu Ruf war keine Anklage, sondern eine Frage nach dem Sinn! Meine letzte Skizze zeigte Jehoschua nach der Kreuzabnahme, gebeugt vom Schmerz, doch unzerbrochen. Ich skizzierte Ihn in einer kontrapostischen Haltung – Kopf und Körper in entgegengesetzter Richtung –, die den geistigen und körperlichen Kampf eines bis zur Stunde seines Todes zweifelnden Menschen in den Marmor bannte. Mit einem erlösenden ›Es ist vollbracht!‹ auf den Lippen.
Ich trat einen Schritt zurück, um mein Werk zu betrachten.
Die Figur tauchte aus dem Stein auf und atmete gierig die Luft der realen Welt. Sie schien ungeduldig, die platonische Welt der Ideen zu verlassen, die Welt des Imaginären, das im Marmor verborgen liegt.
Wie vor mir Donatello war ich versucht, meine Figur anzusprechen: ›Sprich! Warum sprichst du nicht mit mir?‹
Mein Jehoschua war kein leidender Sohn Gottes. Er war kein verklärter Prophet. Er war nicht der erwartete Messias. Er war ein Mensch. Wie ich.
Ich trat an den Block heran. Wieder flogen die scharfkantigen Steinsplitter durch die Werkstatt. Ich hatte gesehen, wie Michelangelo von einem Marmorblock in einer Viertelstunde mehr losgehauen hatte als drei Steinmetze aus Settignano an einem halben Tag. Auch ich maß meine Kräfte am Marmor.
»Er wird zerbersten, wenn du mit solcher Gewalt auf ihn einschlägst«, hörte ich jemanden hinter mir. »Jeder Mensch, jeder Marmor zerbricht irgendwann.«
Zuerst dachte ich, es wäre Baccio, der von seiner Bottega herübergekommen war, um nach mir zu sehen und mich zum Abendessen im Palazzo Taddei abzuholen. Ich fuhr herum. In der Tür meiner Werkstatt stand Michelangelo. Unbeweglich wie eine Statue. Er starrte meinen Jehoschua an.
Ich ließ das Werkzeug sinken und beobachtete ihn.
Er kam keinen Schritt näher. »Willst du dich nun auch als Scultore mit mir messen, Raffaello?«, fragte er. Kein ›Frohe Weihnachten‹, nicht einmal ein ›Wie geht es dir?‹.
»Nein, Michelangelo. Ich will mich an niemandem mehr messen. Nur an mir selbst«, sagte ich. »Das ist keine Kopie des David .«
»Offensichtlich nicht! Er ist kein starker Krieger. Und er ist kein Sohn Gottes. Wen, zum Teufel, hast du gemeißelt? Mohammed, als der Erzengel Gabriel ihm im Traum den Koran diktierte? Buddha, als er den Weg ins Nirvana gefunden hatte? Julius wird dich exkommunizieren.«
Ich war zornig. »Wenn ich deine Meinung hören will, werde ich dich danach fragen.«
Michelangelo war überrascht. Diesen Ton war er von mir nicht gewöhnt. »Du wirst ihn zerbrechen, wenn du deine Kräfte an ihm misst«, warnte er mich.
»Ich will meine Fehler allein machen, Michelangelo«, knirschte ich mit vor Wut zitternder Stimme. Wie konnte er es wagen …!
»Dann mach sie in der richtigen Reihenfolge!« Seine Stimme knirschte wie Steinsplitter. »Einen nach dem anderen. Wenn du mit dem größten Fehler anfängst, bleibt vom Marmor nicht viel übrig, an dem du alle anderen Fehler begehen könntest.«
Wortlos hielt ich ihm mit beiden Händen Hammer und Schlageisen hin. Er stellte sich neben mich, griff um meine Schulter herum und umfasste die Werkzeuge in meinen Händen. Dann trat er hinter mir an den Marmor heran und führte den ersten Schlag.
»Er ist schön«, flüsterte Michelangelo. »So wie du! Leonardo hat Recht. Jeder Künstler kann nur das erschaffen, was er selbst ist.«
Ich antwortete nicht. Ich spürte seine Kraft, als er Hammer und Schlageisen in meinen Händen führte, um den überflüssigen Stein zu entfernen.
»Du hast dich verändert, Angelo Raffaello!«, flüsterte er. »Du bist stark. Stärker als zuvor.«
»Ich werde dir Widerstand leisten!«, versprach ich.
Er schloss seine kräftigen Arme um meine Hüften. »Ich bin froh, dich zu sehen, mio angelo! «, hauchte er und küsste meinen Nacken. »Ich habe dich vermisst.«
Ich löste mich aus seiner Umarmung und flüchtete einige Schritte, um Hammer und Schlageisen auf meinen Werktisch zu legen. »Ich habe dich auch vermisst. Florenz war sehr einsam ohne dich. Seit Monaten sehne ich mich nach unserem nächsten Wortgefecht.«
»Hast du deshalb diesen … diesen Propheten Mohammed gemeißelt – damit du mit mir streiten kannst?«
»Hör auf, ihn so zu nennen, wenn du mich nicht eines Tages in einer der Zellen von San Marco besuchen willst, in die die Ketzer gesperrt werden,
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