Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
war. Nach und nach würde das Salzwasser ihn zersetzen. Sein ewiges Dasein endete hier an dieser Küste mit ihren Weiden und Schafherden. Nach all den Jahrtausenden so zu enden war absurd. Er lachte und lachte, schluckte Wasser, erbrach es wieder und wurde sich bewusst, dass sein Leib seit einigen Augenblicken nicht mehr im Meer trieb, sondern über runde Steine schabte. Die Wellen zogen ihn zurück und warfen ihn wieder nach vorn. Unentwegt. Fest grub er die Finger in die Steine, krallte sich an einer Felskante fest. Mit jeder Welle zog er sich ein winziges Stück näher an Land. Das Meer spuckte ihn aus. Er kroch keuchend über loses Geröll und fiel auf den Bauch. Sein Körper war verätzt, doch sein Augenlicht kehrte allmählich zurück. Er rang noch nach Luft, als zwei Hände ihn behutsam auf den Rücken drehten. Über ihm funkelten Sterne, dann wurden sie von einem Schemen verdeckt. Weder konnte Mica erkennen, wer es war, noch witterte er etwas. Die entsetzte Stimme war ihm jedoch auf Anhieb vertraut.
„Verfluchte Scheiße!“
„Sehe ich so schlimm aus?“, wollte Mica fragen. Seine aufgesprungenen Lippen bewegten sich, aber aus seinem Mund kam lediglich ein unverständliches Krächzen. Also grinste er zu Grishan auf. Das Schlimmste war überstanden. Ab jetzt konnte es nur besser werden. Anstatt sein Lächeln zu erwidern, sprang Grishan auf die Füße und gab einen jämmerlichen Schrei von sich.
„Berenike? Hilfe!“
Dreifach verdammt!
Berenike wirbelte herum und blickte zurück zum Lagerfeuer, dessen Flammen zu einem orangegelben Flackern in der Nacht geschrumpft waren. Sie musste an dem steilen Pfad nach unten vorbeigerannt sein. Von Grishan, der ihn ohne auf sie zu warten hinabgestiegen war, hörte sie nichts mehr. Es war kein Wunder, dass sie den Abstieg übersehen hatte, denn das Bild ihres Bruders stand ihr noch immer vor Augen, um vieles präsenter als der Weg zu ihren Füßen. Der weite Sprung in den Abgrund. Flatternde Rockschöße und aufwehende Goldlocken. Sein Körper, die sich inmitten einer Kugel aus Licht zu einem schlanken Pfeil streckte, um kopfüber ins Meer zu stürzen. Vor Jahrtausenden mochte der gefallene Engel Phosphorus einen ähnlichen Anblick geboten haben. Langsamer denn zuvor ging Berenike den genommenen Weg zurück und suchte nach dem Abstieg. Wie lange war Mica schon der See ausgesetzt? In Anbetracht des Salzwassers war jede Minute eine zu viel.
Aus den Augenwinkeln gewahrte sie eine Bewegung am Lagerfeuer und riss den Kopf in die Höhe. Lediglich ein Huschen hatte sie wahrgenommen, einen Schatten, der zugleich wieder mit der Dunkelheit verschmolzen war. Ihr Blick schweifte wachsam über das flache Gelände. Konnte es sein, dass die Asrai zurückgekehrt war? Instinktiv spürte sie eine andere Gegenwart und wich vom Rand der Klippe zurück. Etwas schälte sich vor ihr aus der Nacht, tiefschwarz und mit leuchtenden Augen. Nun hörte sie auch das gedämpfte Trommeln von Pfoten. Es war ein Wolf. In gestrecktem Lauf, die Ohren gespitzt, steuerte er auf sie zu. Ihre Lippen formten stumm seinen Namen: Juvenal.
Es war eines gewesen, ihn durch ein geschlossenes Fenster zu bewundern. Etwas erschreckend anderes war es, einen riesigen Wolf mit einem Fell so schwarz wie Tinte auf sich zurasen zu sehen. Seine langen Beine führten ihn in gewaltigen Sätzenüber die Wiese. War diese Zielstrebigkeit seiner Wiedersehensfreude zuzuschreiben oder drohte ihr ein Angriff? Unentschlossen, ob sie davonlaufen oder ihn erwarten sollte, spannte sie sich an und entschied sich für Letzteres. Schließlich verbarg sich in dem heranpreschenden Wolf der Mann, mit dem sie ein Leben teilen wollte. Sie musste sich dieser Probe stellen und darauf hoffen, dass er die Frau in ihr erkannte, die er liebte.
Obwohl sie vorsorglich die Hände hob, wurde er um keinen Deut langsamer. Nur wenige Meter trennten sie. Reißzähne blitzten auf, als er sich mit den Hinterläufen abstieß und auf sie zustob. Impulsiv kreuzte sie die Arme vor der Kehle und bereute ihren Wagemut. Sie hätte die Flucht ergreifen sollen. Kaum hatte sie das gedacht, wurde sie von einem schweren Körper gerammt und zu Boden geschleudert. Zu ihrer Erleichterung trafen ihre Hände auf nackte Haut, anstatt in das dichte Schwarz seines Wolfspelzes. Im letzten Augenblick hatte Juvenal sich verwandelt. Kräftige Arme umfassten sie, eine große Hand legte sich schützend um ihren Hinterkopf. Der Aufprall war trotz des Weidegrases hart genug, um ihr
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