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Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe

Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe

Titel: Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lara Wegner
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erhaschte er die Silberkette. Jede seiner Bewegungen war schwerfällig. Es rang ihm alles ab, den Arm höher zu heben, die Kette über den Kopf zu streifen. Sie verhedderte sich in seinem Haar. Ein Aufschrei wollte seine Brust sprengen. Er musste den Mund geschlossen halten. Schon das Wasser, das ihm in die Nase stieg, war zu viel. Umgeben von Licht riss er die Kette los. Ein letzter Kraftakt, der ihn einige goldblonde Strähnen kostete. Sie wirbelten vor seinen Augen.
    Bereits oben an der Klippe hatte die Asrai ihren Angriff von der Seite begonnen, und auch diesmal schoss sie seitlich zwischen einigen grauen Felsen hervor und in den weiten Lichtkegel hinein. Gleich einem grauen Schleier wallte ihr langes Haar hinter ihr drein. Sie war dürr, die Arme lang, der Mund ein weiter Schlund, die Augen zwei tiefschwarze Löcher. Mica verlor sie aus den Augen, als er abermals um sich selbst rotierte und sein Haar vor seinem Gesicht golden aufwogte. Seine Finger öffneten sich, und der Kristall sank ohne ihn weiter zum Meeresboden. Sein Leuchten ließ die Asrai abdrehen. Dicht jagte sie an Mica vorüber, löste einen letzten Strudel aus, in dem er sich drehte, und dann war der Spuk, wenngleich nicht der Schmerz, vorüber. Die Asrai war fort, der Spiegel der Sonne in den Tiefen weit unter ihm versunken und damit sein Licht versiegt. Umgeben von nahtloser Finsternis wusste Mica weder wo oben noch wo unten war.
    Seine Sehnsucht nach Luft wurde übermächtig. Er wollte den Nachthimmel über sich sehen, ehe das Salzwasser seine Augen verätzte. Das Meer beutelte ihn, nagte an seiner Haut, schien Stücke aus seinem Fleisch zu reißen. Hätte man ihn in einen Kessel mit heißem Blei geworfen, es wäre kaum schlimmer gewesen – und weitaus schneller vorüber. Wie hätte er auf diese Folter gefasst sein sollen? Oft war er über die Meere gereist, aber außer einigen Gischtspritzern war er trocken und unversehrt geblieben. Er gelangte an seine Grenzen. Durch seine fest aufeinander gepressten Lippen drangen erstickte Schmerzenslaute. Wieder und wieder und wieder. Wasserblasen stiegen aus seiner Nase, strichen über sein Gesicht, ohne dass er sie sehen konnte. Er versuchte dem Streicheln dieser Blasen zu folgen, die nach oben stiegen. Das war seine einzige Chance.
    Wurde es heller? Nahezu blind versuchte er, sich zu orientieren. Endlich durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche. Luft! Er saugte sie tief ein. Jeder Atemzug ein raues Aufstöhnen. Hölle und Verdammnis! Er war blind geworden. Wo waren die Sterne? Wo die Küste? Der weiße Kreidefels des Beachy Head, ein Orientierungspunkt, verbarg sich vor ihm. Wellen warfen ihn hin und her, trafen in sein Gesicht gleich ätzender Schläge. Vielleicht trieb er auf die Küste zu – oder auf das offene Meer hinaus.
    „Gott“, stöhnte er, wohl wissend, dass es für ihn keinen Gott gab.
    Einst war er selbst ein Gott gewesen und hatte die Gebete seiner Anhänger, seiner Herde überhört. Eine vage Erinnerung keimte auf. Schon einmal hatte er seinen Unglauben an eine weitaus größere Macht als die eigene bedauert. Es lag lange zurück. Ein Vampir von zehn Sommern war er damals gewesen. Sein Spielgefährte ein von der Sonne Babylons braun gebrannter Junge in seinem Alter. An ihm hatte er seinen ersten Blutraub begangen, sich genährt und ihn getötet. Dabei hatte er das Lachen seines sterblichen Freundes so sehr gemocht. Mica hatte eines erkannt nach diesem ersten von vielen Opfern. Er mochte der Herr über den Tod sein, doch das Leben entzog sich seinem Willen. Hatte er es erst genommen, konnte er es nicht zurückgeben. Bittere Tränen hatte er vergossen wegen dieses kleinen, sterblichen Jungen. Und er hatte auf irgendeine Macht gehofft, die Tote zum Leben erweckte. Seine Mutter hatte damals gesagt … Sie hatte gesagt …
    Salzwasser umloderte seinen geschundenen Körper und ließ ihn das Gesicht verziehen. Weshalb erinnerte er sich ausgerechnet jetzt an diesen lange zurückliegenden Vorfall. Jener Junge, dessen Name ihm längst entfallen war, wäre so oder so zu Staub zerfallen. Ein irres Lachen perlte aus seiner Kehle. Er besaß keine Allmacht und war nie ein Gott gewesen, denn Götter hauchten Leben ein, anstatt es zu rauben. Die einzige Allmacht auf Erden war die Fähigkeit, Leben zu schenken, wo es bereits erloschen war, aber dazu war er außerstande.
    Sein Lachen wurde vom Meeresrauschen verschluckt. Die See würde ihn beuteln, bis aus ihm ein zappelndes Etwas ohne Verstand geworden

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