Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
ausgebreitete Arme. „Er ist mein Bruder, und ich weiß sehr gut, was das Meer uns abverlangt.“
Juvenal reagierte zu langsam, zumal er von der heftigen Begrüßung überrumpelt worden war. Grishan hatte seine Abneigunggegen ihn vergessen und war erleichtert, ihn zu sehen. Obwohl Berenike umgeknickt war, bewegte sie sich mit der Geschwindigkeit einer Lamia und zeigte ihm wieder einmal, dass sie weit davon entfernt war, zu einem Menschenkind zu werden. Die von der See glatt polierten Steine klackerten unter ihren Füßen, als sie auf etwas zueilte, das auf den ersten Blick eher einem angespülten Baumstamm ähnelte als einem Mann. Ein Arm ragte wie ein verknöcherter Ast nach oben. Berenike fiel auf die Knie und hob die Hände. Der Mond schien hell genug auf sie herab, dass Juvenal sehen konnte, wie sie die Finger spreizte. Dicht über dem Körper glitten ihre Hände entlang, ohne ihn zu berühren.
„Mica!“, schrie sie.
Über dem Wellenrauschen erklang ein heiseres, unmelodisches Lachen. Was immer das Salzwasser an einem Vampir anrichten konnte, es hatte seine Stimmbänder beschädigt. Selbst das Krächzen eines Raben war angenehmer.
Schwer seufzte Grishan auf. „Ich wollte das vermeiden. Er ist völlig entstellt.“
Festen Schrittes ging Juvenal näher. Harte, runde Kiesel drückten in seine nackten Sohlen und die von Meerwasser getränkte Luft legte sich klebrig auf seine Haut. Das Gelächter endete abrupt.
„Ich wollte einen Spiegel, aber nachdem ich deine Miene sehe, verzichte ich lieber darauf“, krächzte Mica hervor.
Die Worte kamen verwischt und undeutlich. Hinter Berenike blieb Juvenal stehen. Das Mondlicht fiel auf das Zerrbild eines lang hingestreckten Mannes. Niemand hätte bei seinem Anblick von Schönheit, gar Makellosigkeit gesprochen. Die See hatte an ihm gewütet und seinen geschundenen Körper zurück an Land geschwemmt, wo er nun lag wie ein angenagter Knochen. Anstelle von glatter, weißer Haut schien sich eine fahle und viel zu enge Pelle um sein Fleisch zu spannen. Selbst die goldblonden Locken hatten ihren Glanz verloren und lagen in nassen Strähnen um seinen Kopf. Juvenal musste schlucken. Ein löchriger Fremdkörper ragte aus einem unkenntlichen Gesicht, und unter dieser Nase, die diesen Namen kaum noch verdiente, klaffte ein Mund, dem die Lippen fehlten, sodass ein weißes Gebiss zu sehen war. Mithin das Einzige, das keinen Schaden davongetragen hatte. Den Augen fehlten die Lider, und das intensive Türkisblau der Iriden war ausgeblichen. Ausgefranste Pupillen richteten sich auf ihn.
„Sieh an, da ist ja auch Garou. Schneller als erwartet und wieder einmal nackt. Neuerdings scheinst du es für reizvoll zu halten, völlig entblößt vor anderen herumzuspringen. Wirst du etwa zum Sittenstrolch, Garou?“
Der bissige Spott prallte an Juvenal ab. An der Nacktheit anderer stießen sich Vampire ebenso wenig wie an der eigenen. Ihre Herden waren noch in Fellen herumgelaufen, als das alte Volk bereits Stoffe gewirkt und sich Gewänder genäht hatte. Zu Anfang hatten sie ihre Körper bedeckt, um sich von den Sterblichen abzugrenzen. Heute passten sie sich durch ihre Kleidung an ihre Blutquellen an. Juvenal ging davon aus, dass Mica in seinen unterirdischen Gemächern die Natürlichkeit der eigenen Nacktheit jeder noch so edlen Garderobe vorzog.
Ohne etwas zu erwidern, sank er auf ein Knie und musterte den entstellten Vampir. Ohne Zweifel würde die aufgeplatzte Haut heilen und die Schwellung seiner zu Klauen gekrümmten Finger zurückgehen, doch im Augenblick sah Mica grauenhaft aus. Da die See seine Lippen verätzt hatte, schien er unentwegt zu grinsen, wobei seine Fänge gefährlich spitz hervorragten.
„Das wird schon wieder“, meinte Juvenal, nur um überhaupt etwas zu sagen.
Der Brustkorb des Vampirs bebte. Diesmal blieb sein Lachen lautlos. „Sicher. Schließlich bin ich ein Ewiger. Genauso ewig wie die Lüge, die das alte Volk in die Welt gesetzt hat. Lange vor meiner Zeit. Über die Götter. Haha, die Götter!“
Berenike drehte den Kopf zur Seite und barg ihr Gesicht an Juvenals Schulter. Feuchtigkeit tropfte auf seine Haut. Sie weinte um ihren Bruder. Und so seltsam es war, Juvenal spürte, dass auch seine Augen brannten. So viel Tod und Verderben, und dabei reichte Salzwasser aus, um das alte Volk zu schwächen. Was sollte er mit dieser Erkenntnis anfangen? Sie etwa in die Welt hinaustragen und den alten Krieg neu beginnen? Weitere Tote und Verluste wären das
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