Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
von den Düften der fruchtbaren Erde Dies war ein Platz, wo er Berenike hätte lieben wollen. Unter dem Gewölbe einer Trauerweide und dem gedämpften Vorbeirauschen des Flusses als Begleitmusik. Doch diese Nacht sollte nicht der Liebe gewidmet werden. Sie waren aus anderen Gründen hier, die sehr wenig mit Romantik und sehr viel mit einer heftigen Auseinandersetzung gemein hatten. Juvenal hoffte inständig, dass kein Blut fließen würde.
Natürlich war die heranrollende Krise eine Angelegenheit des alten Volkes. Jederzeit hätte er sich heraushalten können. Er hatte seinen Beitrag geleistet, indem er Mica von seinem Blut gegeben hatte, und niemand würde von ihm verlangen, dass er sich mitten unter eine Horde Vampire begab. Selbst mit einem starken Rudel in seinem Rücken hätte er nur einen der Ewigen ausschalten können. Andererseits fiel es ihm schwer, sich außen vor zu halten. Indirekt hatte Branwyn den Tod seines Sohnes verursacht. Wenn er schon darauf verzichten musste, ihn mit eigener Hand seiner gerechten Strafe zuzuführen, wollte er zumindest bei seinem Sturz dabei sein.
Sein Blick schweifte zu Mica. In höchster Konzentration behielt dieser die erleuchteten Fenster im Auge. Ein unerwartetes Gefühl von Verbundenheit keimte in Juvenal auf. Vielleicht lag es an dem Blut, das er Mica geschenkt hatte. In den letzten Tagen und Nächten hatte er Gelegenheit erhalten, den Vampir zu beobachten, und Facetten entdeckt, die ihm bisher unbekannt gewesen waren. Ohne Frage kannte Mica wenig Rücksicht und folgte ausschließlich seinen eigenen Regeln. Das hatte sein Umgang mit Melody bewiesen, die er als Blutquelle missbraucht hatte. Gleichwohl war er nicht davor zurückgescheut, die Rudelwölfin vor einer heranrollenden Wasserflut zu retten. Mehr noch zeigte Mica seiner Schwester gegenüber einen stark ausgeprägten Familiensinn, den Juvenal aus den Wolfsippen kannte. Ihr Glück lag ihm aufrichtig am Herzen, und außer einigen Neckereien oder bissigen Spottworten erhob er keine ernsten Einwände gegen ihre Verbindung mit Juvenal. Sie dankte es ihm mit der festen Absicht, ihm in dieser Nacht beizustehen, und das, obwohl sie eingestanden hatte, dass sie überlange Zeit einen tiefen Groll gegen ihren Bruder gehegt hatte.
Weit oben saß sie mit Grishan in der Baumkrone und observierte die Umgebung. Damit war sie seinen Blicken entzogen. Dafür sah er das Profil von Mica umso deutlicher. Unter der Finsternis des Baumes hob sich das Ebenmaß seiner Gesichtszüge hervor. Unversehrt und vollkommen. Es schien ein Frevel, die Schönheit des Vampirs überhaupt antasten zu wollen. Mithin war das einer der vielfältigen Gründe, weshalb der Goldene Jahrtausende und die vielen Angriffe der Werwölfe ohne größere Blessuren überdauert hatte. Wie viele der Wolfskrieger waren im letzten Augenblick zurückgescheut, dem mächtigsten der Vampire den schönen Kopf von den Schultern zu trennen? Es war unangebracht, überhaupt solche Vermutungen zu hegen, aber nachdem es ihm durch den Kopf geschossen war, ließ Juvenal der Gedanke nicht mehr los. Letztendlich blieb es eine Vermutung. Sollte jemals ein Alphawolf die Möglichkeit versäumt haben, den Goldenen auszulöschen, so hatte er es verschwiegen. Mica drehte sich ihm zu. Ihm war die skeptische Musterung natürlich nicht entgangen. Amüsement funkelte in seinen Augen auf.
„Es ist bedauerlich, dass ich dir deine Bewunderung im Augenblick nicht vergelten kann, Juvenal. Zu gern würde ich noch einmal …“
Juvenal räusperte sich. Was immer Mica vorschwebte, es blieb besser ungesagt. Es konnte nur etwas absolut Verwerfliches sein, eine dieser Anzüglichkeiten, bei denen Juvenal die Schamröte ins Gesicht stieg und seine Ohren brannten.
„Ich bin ja schon still“, gluckste Mica gedämpft. „Herrje, Garou, du solltest dich einmal sehen. Jeder Moralapostel würde dich um dein Mienenspiel beneiden. Ich hoffe, du willst mir keine Predigt halten.“
Juvenal verzog die Lippen. Ihm war nicht nach Scherzen zumute. Hier kauerte er neben einem Geschöpf, das er zu bekämpfen und auszumerzen geschworen hatte. Dieser Schwur lag sehr lange zurück, und seitdem waren Dinge geschehen und Verhältnisse eingetreten, mit denen weder er noch Mica hatten rechnen können. Ihre Feindschaft hatte sich gewandelt. So sehr, dass sie diesen Namen wohl kaum noch verdiente. Vielleicht hatte es irgendwann so kommen müssen, nach all den Jahrhunderten des Kampfes. Vielleicht hatten sie aber auch einen
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