Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
der andere, sofern sie einer Großkatze gegenüber gnädiger gestimmt waren, ein unwillkommener Störenfried. Bei dem Gedanken, dass ihnen etwas zustoßen konnte, fröstelte sie. Niemals hätte Mica ihnen erlauben dürfen, ihn auf diesem Gang zu begleiten. Was dachte er sich dabei, sie in seine Angelegenheiten hineinzuziehen und ihr Leben zu riskieren? Ihr Herz wurde schwer, als sie den Blick auf Juvenal richtete.
Juvenal! Geliebter Mann, geliebter Werwolf. Jäh sehnte sie sich danach, die Wange in die Kuhle seiner Schulterblätter zu schmiegen, so wie sie es sich angewöhnt hatte, wenn sie vor ihm erwachte. Sein im Schlaf gelöstes Gesicht war nun gezeichnet von scharfen Kanten. Viel zu wenige friedliche Momente waren ihnen vergönnt gewesen, und keinen einzigen hatte sie im Rückblick hinreichend ausgekostet. Was zur Hölle hatte sie hierher geführt? Sie sollten auf dem Weg nach Spanien sein, zu seinem Hort und in ein geruhsames Leben, frei von blutigen Auseinandersetzungen. Schließlich war Mica von einer derartüberirdischen Gelassenheit, dass er gewiss allein mit der Situation fertig wurde. Ohnehin würden die Vampire nicht auf sie hören, da sie ihnen unbekannt war, geschweige denn, dass sie einem Werwolf Gehör schenkten.
Lautlos schlichen sie um eine weitere Biegung. Schon von Weitem war die Versammlung zu sehen, während sie selbst im Dunkeln des Ganges blieben. Licht floss aus einem bis zur Decke reichenden Steinbogen. Die Vampire und Lamia hatten sich in einem Halbkreis um Branwyn und einen Steinsockel eingefunden. Darauf stand eine Schatulle aus Holz. Branwyn sprach mit ausladenden Gesten auf sie ein. Worte zischten über seine Lippen. Worte über einen wahr geworden Mythos und das Versagen des Goldenen. Worte über seine eigene Großtat zum Wohl des alten Volkes und über ihre größte Sehnsucht. Das Licht der Sonne.
Die Vampire und zwei der Lamia hatten ihre Kapuzen zurückgeschlagen. Im Ebenmaß ihrer alterslosen Gesichter waren die Emotionen schwer zu deuten. Die eine Hälfte schien ratlos ob der ausufernden Rede. Die andere Hälfte lauschte mit zur Seite geneigten Köpfen und die Lamia blieben unbeeindruckt. Doch über allem lag schlecht verhohlene Langeweile, unter der die Ewigen litten, wann immer sie davon ausgingen, dass ihre Zeit vergeudet wurde. Bisher hatte Branwyn große Mühe, sie zu überzeugen. Mit neuer Zuversicht schritt Berenike aus und drängte sich zwischen Mica und Juvenal, nicht ohne Grishan warnend den Zeigefinger vor die Nase zu strecken, damit er im Hintergrund blieb.
Unter dem Bogen blieben sie stehen, und wurden zunächst übersehen, da die Augen des alten Volkes auf der Schatulle ruhten, über die Branwyn seine Hand hielt.
„Alles wird sich ändern. Das ist mein Versprechen an euch. Ich setze den Kodex außer Kraft, der das Leben unser Quellen verschont. Lamia und Vampire werden wieder vereint. Wir werden das sein, wozu wir stets bestimmt waren, ehe ein Unwürdiger uns seinen Willen aufzwang. Der Spiegel der Sonne ist unser, und damit ist alles möglich.“
In einer stummen Verständigung wurden Blicke gewechselt und schossen immer wieder zu einer Gestalt, die sich abseits hielt. Anstelle eines Gesichts schien unter ihrer Kapuze ein schwarzes Loch zu sitzen. Ein jeder schien sich die Frage zu stellen, weshalb sie sich verbarg, ohne jedoch zu wagen, sie laut auszusprechen. Da Mica drei Lamia gezählt hatte, musste sie eine von ihnen sein. Doch selbst die anderen beiden Lamia schienen ahnungslos, wer sie war.
„Wozu all das Geschwätz?“, machte Mica sich bemerkbar.
Seine Stimme fuhr ähnlich der kalten Schneide eines Schwertes durch die Versammlung. Selbst Berenike, die damit gerechnet hatte, fuhr zusammen.
Branwyn wirbelte herum. Für einen Atemzug schienen die Vampire zu Statuen zu versteinern. Alle Augenpaare, strahlend, aber auch von der Härte von Juwelen, richteten sich auf Mica. Dann raschelte der schwere Stoff ihrer grauen Umhänge und sie verneigten sich stumm vor ihm. Einzig die Lamia verzichteten auf eine Ehrbezeigung. Obgleich Berenike ihnen in dieser Nacht zum ersten Mal begegnete, wusste sie genug aus den Schilderungen ihrer Mutter, um ihnen Namen zuordnen zu können. Rebecca besaß blauschwarzes Haar und eine beinahe ebenso dunkle Haut wie sie selbst, aus der ihre Augen in strahlendem Blau hervorleuchteten. Cosima hingegen war hell und auffallend blass, während ihr Blick wie schwarzes Öl schillerte. Die erste war nur wenige Jahrhunderte älter als
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