Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
streckte die Beine durch und richtete sich auf. Sein Hemd stand noch immer offen. Bevor sie falsche Schlüsse ziehen konnte, nestelte er an den Knöpfen und schloss es von unten nach oben. Mit Blick auf die kleinen Knopflöcher sprach er weiter.
„Berenike, ich will mich nur mit dir unterhalten. Und das wäre einfacher, wenn du …“
Da er den Kopf gesenkt hielt und sich mit seinen Hemdknöpfen befasste, gewahrte er lediglich ein Aufblitzen von zitronengelbem Stoff. Sie schoss unter dem Tisch hervor und ließ ihm keine Zeit zum Ausweichen. Eine Frage sprühte hinterseiner Stirn auf: Wie dämlich kann ich eigentlich sein?
Dann trafen ihre scharfen Absätze auf seine Kniescheiben. Ihr Tritt fegte ihn von den Füßen. Er ruderte wild mit den Armen, suchte vergeblich nach einem Halt und krachte mit dem Hinterkopf auf die Steinplatten. Das Licht aus dem Gang versickerte und erlosch.
Binnen einer Nacht war Berenike mehr zugestoßen als in den vergangenen vierunddreißig Jahren ihres Lebens. Ein von Grauen und Ungewissheit erfüllter Moment hatte den nächsten gejagt. Branwyn hatte ihre Nase zertrümmert und sie entführt. Sie war von einem Albtraumwesen mit Krakenarmen und dem Gesicht ihrer Mutter angegriffen worden, und der Zusammenprall mit dem Eisenschädel eines Werwolfes hatte ihr das Bewusstsein genommen. Erwacht war sie in einer Zelle, zu einer Wurst verschnürt. Zuletzt war eine Musketenkugel knapp über ihren Scheitel hinweggezischt und in die Wand geschlagen. Das alles schrie nach Vergeltung.
An den Füßen schleifte sie Juvenal auf den Tisch zu. Sie musste sich beeilen, denn er würde bald wieder zu sich kommen. Anders als ein Sterblicher, dessen Kopf bei dem Sturz aufgeplatzt wäre wie ein Ei, brauchte es mehr, um den harten Schädel eines Werwolfs zu knacken. Dreifach verdammt, er war schwer. Oder ihre Kräfte wollten sie nach all der Aufregung endgültig verlassen. Sie hievte seinen schlaffen Körper auf den Tisch und schob und drückte so lange, bis er längs darauf lag. Wo waren die Seile? Er lag darauf. Als sie sie unter ihm hervorzerrte, stöhnte er auf und bewegte den Kopf. Es klang wie eine unartikulierte Frage. Hastig knotete sie eine Schlaufe, schlang sie um sein Handgelenk, zog seinen Arm weit nach hinten und wand das Seil erst um das eine, dann um das andere Tischbein. Mit der zweiten Schlaufe fixierte sie auch die andere Hand. Sie hastete an das Fußende und verfuhr mit seinen Fußknöcheln auf dieselbe Weise.
Zufrieden und etwas atemlos betrachtete sie ihr Werk. Über den Tisch gespannt wie ein Teppich. Was nun? Vor wenigen Monaten hätte sie die Fänge in seine Halsschlagader gegraben und sein Blut getrunken. Ein Vorgehen, das seinen Reiz verloren hatte. Sie könnte ihn töten, indem sie ihm Mund und Nase zuhielt. Es war jedoch eine gewaltige Dummheit, einen Alphawolf in seinem Hort umzubringen, während im Obergeschoss ein anderes Raubtier mit einer Muskete hantierte und darauf aus war, ihr eine Kugel in den Kopf zu schießen. Das Klügste wäre selbstverständlich, umgehend zu verschwinden und ihn gefesselt zurückzulassen, aber das schien ihr nach all den erlittenen Schrecken, an denen er Anteil gehabt hatte, nicht genug. Er sollte dafür bezahlen. Irgendwie. Nachdenklich musterte sie Juvenal.
Die beiden unteren Knöpfe seines Hemdes waren geschlossen, der Rest klaffte weit auf. Zu ihrer Überraschung beschränkte sich seine Brustbehaarung auf einen dunklen Streifen, der seinen Oberkörper in zwei Hälften teilte und zu seinem Hosenbund hinabführte. Mit der Fingerspitze berührte sie das schwarze Haar. Weich war es, ähnlich einem kurzen Pelz. An seinem Nabel hielt sie inne. Was könnte sie anstellen, um ihm seine Übergriffe heimzuzahlen? In diesem Moment erwachte er aus seiner Ohnmacht. Mit einem irritierten Blinzeln sah er zur Decke, versuchte, sich aufzurichten und stellte fest, dass es unmöglich war. Das Braun seiner Augen verfärbte sich in ein nahezu giftiges Gelb. Er hob den Kopf, entdeckte ihren Finger an seinem Nabel und spannte die Bauchmuskeln an.
„Was machst du jetzt, großer, böser Wolf?“, fragte sie.
„Binde. Mich. Los!“
„Du kannst brüllen, so viel du willst. Ich glaube nicht, dass sie dich oben hören. Die Wände sind ziemlich dick. Mich jedenfalls hat niemand gehört. Ich musste mich selbst befreien.“
Schwer atmend stierte er sie an und renkte sich beinahe die Schultern aus bei dem Versuch, die Seile zu lockern. Je länger er gegen die Fesseln
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