Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
Gesäß. Ein stählerner Arm quetschte ihre Rippen und hob ihren Unterleib an. Heißer Atem traf ihren Nacken. Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende verwirkt, weil sie sich überschätzt hatte.
Sein erster Biss würde ihr Genick brechen, der zweite ihren Kopf vom Hals trennen. Ihre Todesangst entlud sich in einem gellenden Schrei.
5
E
ine Wolkendecke aus dunklem Schiefergrau hing über Kensington und senkte einen Schleier aus Feuchtigkeit über das große, altertümliche Haus. In der Mitte des Hofes blieb Mica stehen. Nach einer unfassbar beschwerlichen Reise hatte er sein Ziel erreicht, doch blieb dahingestellt, ob Berenike dasselbe Ziel im Sinn gehabt hatte. Zwischen Modena und Florenz hatte er ihre Fährte verloren und sich auf seine Ahnung verlassen müssen. Diese hatte ihn bei Tag und Nacht in eine unsäglich langsam dahinrumpelnde Kutsche gezwungen, die er die halbe Zeit nicht verlassen konnte, denn anders als Berenike musste er vor dem Tageslicht Schutz suchen. Die vergangenen Wochen waren eine endlose Tortur gewesen. Zumal er die Kutsche am Ärmelkanal zurücklassen musste. Zu seinem Glück erwartete ihn in England tristes Regenwetter, das es erlaubte, ohne Verzug weiterzureisen. Jetzt richtete sich seine Hoffnung darauf, dass Berenike zwar in England angekommen war, doch noch keine Gelegenheit hatte, eine gravierende Dummheit zu begehen, die sein Bündnis mit den Garou infrage stellte.
Missmutig verzog er die Lippen. Eine beschissene Hoffnung war das. Seit er Rom verlassen hatte, nagte der Verrat seiner Schwester an ihm. Nahezu jede Stunde hatte er sie verflucht. Seine Sorge um sie war darüber erkaltet und der Gedanke, eine Lamia, dazu noch von seinem Stamm, für seine Zwecke zu opfern war ihm beinahe vertraut geworden. Vielleicht hatten die Garou das sogar schon für ihn erledigt. Durch seine Warnung hatte er Berenike regelrecht zu Freiwild erklärt. Die radikale Lösung hatte sich als anhaltender Druck in seiner Magengegend festgesetzt. Vor allem wegen Selene. Vordergründig hatte seine Mutter Berenike aufgegeben. Sollte sie jedoch erlöschen, würde sich das Blatt wenden. Mica kannte Selene. Bei allem zur Schau gestellten Gleichmut hing sie mit überirdischer Liebe an ihrem Fleisch und Blut.
Er zögerte den Moment hinaus, Gilian gegenüberzutreten. Verrückt wurde er von den einen genannt, hochgradig aggressiv von den anderen. Da Mica den Werwolf mit dem hellen Haar kaum kannte, musste er sich auf alles gefasst machen. Reglos verharrte er vor dem Haus, wappnete sich vor dem großen Rudel, das darin lebte. Es hätte ihn längst entdecken und einkreisen müssen, doch niemand zeigte sich an den Fenstern oder der Tür. Ein Regentropfen traf auf seine Schulter, ein zweiter auf seine schlammverschmierten Stiefel. Abgesehen von einigen Krähen in den Bäumen hatte niemand seine Anwesenheit im Hof bemerkt. Aus vereinzelten Regentropfen wurde ein Rauschen. Es trieb ihn auf das Eingangsportal zu. Die Tür war unverriegelt. Eine weitere Merkwürdigkeit. Entweder Gilian hatte die Warnung nicht erhalten oder verkannte den Ernst der Lage.
Auf leisen Sohlen schlich Mica in das Zwielicht der Halle. Obwohl es Abend wurde, brannte nirgends Licht. Eine Treppe aus dunklem Holz verschwand in den Schatten des nächsten Geschosses. Aus dem hinteren Teil des Hauses kamen das Brutzeln von Fett und der Geruch von gebratenem Fleisch. Gedämpfte Stimmen drangen zu ihm.
„Die besten Stücke gebühren immer dem Leitwolf, Grishan. So ist es Sitte.“
„Ich habe aber Hunger, Sancho.“
„Hier, den Ochsenschwanz kannst du haben.“
„Das ist das knochigste Stück. Ich will lieber …“
Ein barbarisches Aufbrüllen setzte dem Disput ein Ende. Mica warf den Kopf herum und erspähte eine niedrige Pforte unter der Treppe. Das Brüllen war aus dem Kellergeschoss gekommen und abrupt abgebrochen. Er legte die Hand an den offenen Riegel, wollte die Pforte aufziehen, als über ihm ein Luftschnappen zu hören war. Eine Frau mit honigblondem Haar und geweiteten Augen stierte über das Geländer auf ihn herab. Eine harmlose Rudelwölfin. Weniger harmlos wirkten die beiden Männer, die aus der Küche gerannt kamen. Besonders der Jüngere. Mica stutzte und sog witternd den Atem ein. Fremdartig, und doch hat er diesen trockenen Geruch schon einmal eingeatmet. Den korpulenten Rudelwolf konnte er außer Acht lassen, aber der Bursche mit dem zimtfarbenen Haar … Prüfend witterte er noch einmal. Tatsächlich. Vor ihm stand eine
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