Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
für eine Omega gehört. Deine Aufgaben richten sich auf Harmonie und Ordnung im Rudel. Ich bedaure aus tiefster Seele, was Gilian dir zugefügt hat. Nichts davon gereicht ihm zur Ehre. In seinem Namen bitte ich dich um Vergebung.“
Melody konnte nicht würdigen, dass ihm solche Bitten selten über die Lippen kamen. Sie winselte auf, rutschte vom Bett und fiel vor ihm auf die Knie. Flehend hob sie die Arme. „Ich bin diejenige, die Vergebung erlangen muss, Sir. Kämpfen muss ich darum. Das müsst Ihr doch verstehen.“
Er verstand nur eines. Gilian hatte seine Macht über Melody und ihr Vertrauen missbraucht. Welche Verfehlungen hatte er sonst noch begangen? Eingedenk der überstürzten Flucht seines Rudels mussten es einige gewesen sein. Bereits vor seinem Tod musste ihre Loyalität Risse erhalten haben, sonst wären die Männer und Frauen geblieben. Zumindest so lange, bis sie seinen Scheiterhaufen entzündet und ihn betrauert hatten.
„Deine Tortur ist vorüber, Melody. Mein Rudel in Spanien ist sehr groß. Unter ihnen wirst du einen Platz finden, an dem du behütet und geschätzt wirst.“
„Aber Sir …“
„Das ist mein letztes Wort zu dieser Sache. Und nun geh auf dein Zimmer und kleide dich angemessen.“
Sie rappelte sich auf und ließ das Laken fallen. „Ihr denkt, Euer Sohn hätte unehrenhaft an mir gehandelt und verurteilt ihn dafür. Aber das ist ein Irrtum. Ich erfüllte eine wichtige Aufgabe und bändigte die Bestie in ihm. Keine andere hätte es besser machen können. Keine!“
Wortlos drehte er ihr den Rücken zu und füllte Wasser in eine Schüssel. Er schöpfte sich das kühle Nass ins Gesicht. Immer wieder, bis er die Tür schlagen hörte und sich allein wusste. Er stützte sich schwer auf die Kommode und ließ den Kopf hängen. Von seinem Kinn fielen Wassertropfen in die Schüssel. Er sah sein Gesicht, von winzigen Wasserkreisen zerteilt. Gilian war krank an Geist und Seele gewesen. Irgendwann wäre die Bestie aus ihm hervorgebrochen und hätte in London gewütet. Wie es bereits bei Alba geschehen war, obwohl sie vor ihrem Blutrausch vollkommen gesund gewirkt hatte. Die Sippe der Garou musste wahrlich verdammt sein. Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht. Er brauchte Klarheit über die Verfassung seines Sohnes.
In der Bibliothek setzte er sich an den Sekretär und wühlte in den Schubladen nach Anhaltspunkten über Gilians Geisteszustand. Irgendetwas musste zu finden sein. Irgendeine gottverdammte Erklärung. Stapel um Stapel ging er durch. Alte Rechnungen, Schuldscheine, Einladungen und Notizen. Er fand die Federskizze einer jungen Frau mit rundem, beinahe kindlichem Antlitz. War das Dorothy Swindon? Hatte ihr Schicksal den Wahnsinn ausgelöst? Er legte die Zeichnung beiseite. Ein Brief von Cassian fiel in seine Hände. Vor sechs Monaten hatte er Gilian mitgeteilt, dass er zum zweiten Mal Vater wurde. Juvenal hatte einen ähnlichen Brief erhalten, auffallend lang und ausführlich für seinen jüngsten Sohn. Jetzt wurden die freudigen Zeilen ein Anker der Normalität, an dem er sich festhalten konnte. Wenn diese ganze Scheiße mit Branwyn erledigt war, würde er nach Paris reisen und seine Enkelkinder auf den Knien schaukeln. Es war an der Zeit, dass er sie kennenlernte.
Zwischen zwei weiteren Rechnungen fiel ein eng gerolltes Papier heraus. Juvenal zog an dem Faden, mit dem es umwickelt war, und entrollte es. Noch eine Botschaft von Cassian. Kurz und knapp.
Eine Lamia ist auf dem Weg zu dir. Obwohl sie das Gift ihrer Fänge verloren hat, bleibt sie gefährlich. Sie ist Micas Schwester. Setze sie fest, wenn du kannst. Töte sie, wenn es keinen anderen Ausweg gibt
.
Leise pfiff Juvenal durch die Zähne. Berenike war die Schwester von Mica. Die Warnung war unmissverständlich. Dieses üble Früchtchen ignorierte das Bündnis und war nach London gekommen, um Gilian zu töten. Allerdings blieben Zweifel. Juvenal rieb über sein Kinn und holte sich die Ereignisse der vergangenen Nacht zurück ins Gedächtnis. Der Silberdolch in ihrer Hand. Sie hatte beabsichtigt, ihn damit niederzustechen. Ihr Widerstand gegen Branwyn, einen Angehörigen ihres Volkes.Dadurch hatte sie womöglich seinen Tod abgewendet. Lamia steckten voller Widersprüche, aber sie gingen nicht so weit, einem Werwolf das Leben zu retten. Gewiss, sie war hinterlistig, aber ihr Kalkül hatte niemanden umgebracht. Handelte so eine kaltblütige Mörderin? Sie hatte ihr Gift verloren. Das gab den Ausschlag. Zwar war er
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