Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
Pfote, nasses Fell wurden durch das Wasser gewirbelt. Dann wurde auch Mica von den Wassermassen erfasst.
„Mica!“, rief Berenike. Zwei Arme umfassten sie, hinderten sie, in das Haus vorzudringen. Juvenal drückte sie an sich und hob sie auf die Arme. Der Geruch nach Farn brachte ihr keinen Trost. Ausläufer der Welle schwappten aus dem Portal, um seine Stiefel und flossen in den Hof. Es schien ewig zu währen, bis sie trockenen Boden erreichten und er sie absetzte.
„Mein Bruder!“ Berenike schlug um sich, als Juvenal ihr den Weg zum Haus versperrte. „Ich muss zu ihm!“ Regen prasselte in ihr Gesicht. Weiteres Rauschen war aus dem Haus zu hören. Immer neue Wellen bahnten sich einen Weg durch das Portal in den Hof. Die Hand auf den Mund gepresst, versuchte Berenike ihrem Zittern beizukommen. Es konnte nicht sein, dass Mica um einer Rudelwölfin willen die Ewigkeit aufgegeben hatte. „Weshalb hat er das getan?“
„Er wollte sein Vergehen an ihr wieder gutmachen – und das ist ihm gelungen“, erwiderte Juvenal dumpf.
„Sein Vergehen?“ Ihre Stimme kippte. „Er hat kein Verbrechen an ihr begangen. Kannst du von deiner Beute behaupten, dass sie dich liebt? Bleiben deine Opfer etwa am Leben, nachdem du dich von ihnen genährt hast?“ Keuchend hielt sie inne. Um sie herum betretene Gesichter. „Ich gehe hinein und suche nach ihm.“
„Auf keinen Fall!“
„Er ist mein einziger Bruder“, fauchte sie Juvenal doppelstimmig ins Gesicht. „Wage es, mich aufzuhalten, und du wirst es bereuen.“
Juvenal blieb an ihrer Seite, während Sancho und Grishan ihnen in einiger Distanz folgten. Die Lichter im Haus waren erloschen. Aus der entstandenen Finsternis kam ein Gluckern, das Berenike zu verhöhnen schien. Sie ballte die Fäuste und betrat die Halle. Am Fuß der Treppe lag Melody, das Gesicht im Wasser. Ihr langes Haar glich schmutzigen Algen, die ihren nackten Körper umschwebten. Der Tod hatte sie in eine Frau zurückverwandelt.
„Wenn mein Bruder erloschen ist, finde ich einen Weg, die Asrai zu töten. Gleichgültig, wie lange es dauert.“ Berenike rissden Kopf hoch und schrie in das Haus. „Du verdammtes Miststück hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst. Eine Strega wird kommen und dich ausmerzen, so wahr ich hier stehe!“
„Ich hoffe, die Drohung gilt nicht mir.“
Mica taumelte hinter der Treppe hervor. Schlaff klebten seine Locken am Kopf. Sein Anzug triefte. Vor Erleichterung lachte Berenike laut auf. Sofort hob er die Hand und wankte auf sie zu.
„Zurück, Nike. Diese verfluchte Kreatur wollte mich küssen.“ Er hustete. „Kurz gesagt, mir stand weniger der Sinn danach.“
Als die Wasseroberfläche am Boden zu zittern begann, retteten sie sich mit einem Satz über die Schwelle. Es hob erneut an.
„Ihr verhöhnt mich?“, kam es aus mehreren Mündern gleichzeitig. „Ich nehme euch alles, was euch lieb und teuer ist. Gebt mir den Spiegel der Sonne zurück!“
Sie hatte sich nicht allein verdoppelt oder verdreifacht. Das unnatürliche Gewässer floss über die Stufen zurück nach oben, und je weniger es am Boden wurde, desto mehr Gestalten erschienen an der Balustrade im ersten Stock. Ihre Bewegungen erfolgten synchron, obgleich sie unterschiedliche Gesichter besaßen. Berenike erkannte Gilian, Ruben, Aurora und ihre Mutter. Andere kannte sie nicht. Eine junge Frau mit Sommersprossen und rotgoldenem Haar. Ein hochgewachsener Alphawolf mit graublauen Augen und den scharf geschnittenen Zügen der Garou. Eine andere Frau, deren lange Locken in der Farbe von Kastanien glänzten. Sie alle schwebten über die Stufen auf sie zu, mit Armen, die zu lang waren und vor ihnen aufwogten.
„Ich scheiß mir gleich in die Hose!“, quiekte Sancho.
Seine Worte lösten ihre Lähmung. Wie ein Mann warfen sie sich herum und jagten über das Grundstück durch den Torbogen und hinaus auf die Felder. Erst im Wald, im Schutz der Bäume, wurden sie langsamer.
„Ist Melody tot?“, winselte Sancho und rang die Hände.
„Ja“, sagte Juvenal tonlos.
Ihren Leichnam hatten sie zurücklassen müssen, ebenso wie alles andere. Juvenal fiel zurück und wartete auf Berenike. Seine Augen leuchteten schwarz in der Dunkelheit. Obwohl er sie nicht berührte, wuchs ihre Gewissheit, dass sie ihm nicht gleichgültig war. Sie hielt mit ihm Schritt, als er sich an die Spitze ihres kleinen Trupps setzte.
„Im Wald stieß ich auf eine Jagdhütte. Etwa eine halbe Stunde zu Fuß. Dorthin gehen wir“, teilte er
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